Eckersdorfer Fall sorgt für wegweisendes Urteil Eckersdorf: Wachkoma-Patient darf Pflegegeld komplett für sich behalten

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Margarete Fischer (76) kümmert sich von frühmorgens bis nachmittags um ihren behinderten Enkel Tobias (33), den Rest der Zeit ist seine Mutter da, die noch Vollzeit arbeitet. Jetzt haben sie einen Prozess gewonnen: Tobias darf so viel Geld für sich behalten, wie er bei einer Vollzeitunterbringung in einem Pflegeheim zuzahlen müsste. Foto: Archiv/ott Foto: red

Der zweifache Vater Tobias Scherer liegt seit zehn Jahren im Wachkoma. Da er gegenüber seinen beiden Kindern unterhaltspflichtig ist, ging bisher ein Großteil des Pflegegeldes verloren. Das hatte Auswirkungen auf die Angehörigen, die Scherer pflegen. Das Job-Center hat prüfen lassen, ob die Familie zu viel Geld für ihren schwerstbehinderten Angehörigen ausgibt. Das Amtsgerichts Bayreuth hat jetzt entschieden: nein. Das Urteil könnte wegweisend sein für andere Pflegende von Schwerstbehinderten.

 
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Von seinem Sieg vor Gericht bekommt Tobias Scherer wahrscheinlich nichts mit. Seit zehn Jahren liegt der zweifache Vater in seinem Bett. Seit er eines Sonntags im Bad einfach umgekippt war, seit sein Gehirn eine halbe Stunde ohne Sauerstoff war, seit sein Großhirn nicht mehr funktioniert. Die Familie betreut ihn rund um die Uhr. Das kostet nicht nur Nerven und Zeit, sondern auch Geld. Geld, das auch von der Allgemeinheit kommt. „.Es müssen in jedem Fall eventuelle Unterhaltsansprüche geprüft und verfolgt werden“, heißt es in einer Erklärung des Jobcenters zu dem Fall.

Scherer ist gegenüber seinen zwei Kindern unterhaltspflichtig, denn er bekommt knapp 900 Euro Rente. Davon darf er einen bestimmten Teil behalten, den Selbstbehalt. Was darüber hinausgeht, wird als Unterhalt für die Kinder angerechnet. Und dafür ist das Job-Center zuständig. Das wollte bei Scherers Pflegegeld kürzen, um es seinen beiden Kindern (zehn und zwölf) zu geben.

Dazu hat das Job-Center prüfen lassen, ob die Familie zu viel Geld für ihren schwerstbehinderten Angehörigen ausgibt. Oder ob der Familie das Geld gekürzt wird, damit das Jobcenter weniger Unterhalt an seine Kinder zahlen muss. Eindeutiges Urteil des Amtsgerichts Bayreuth: nein. Der Selbstbehalt von Scherer ist der Betrag, den er bei einer Vollzeitunterbringung in einem Pflegeheim zuzahlen müsste.

„Fraglich war, welcher Selbstbehalt für einen Behinderten gilt, der sich im Zustand nach Wachkoma befindet“, so das Jobcenter in seiner Erklärung. Denn eine höchstrichterliche Entscheidung gab es dazu noch nicht. „Das Jobcenter Bayreuth-Land war daher verpflichtet, den Klageweg einzuschlagen“ – um zu prüfen, ob Steuergeld gespart werden könne.

Deswegen hatte das Jobcenter eine Liste erstellt, auf dem strittige Ausgaben standen: ein ganzes Shampoo im Monat, vier Zahnbürsten à 3,99 Euro, Zungenreiniger à 3,99 Euro, monatlich ein Parfum für 39,95 Euro, monatlich 18 Rasierklingen, drei Paar Socken, Kleidung im Wert von 125,00 Euro bis 180,00 Euro, Bett- und Nachtwäsche im Wert von 128,00 Euro usw. Alles zu teuer. Darunter fielen auch sogenannte Urinal-Kondome. Als Alternative schlug das Jobcenter vor, die auszukochen.

„Das ist unter der Gürtellinie“, schimpft Oma Margarete Fischer. Die Wut auf das Jobcenter sitzt noch tief, sehr tief. „Die hätten uns mal vormachen sollen, wie man Kondome auskocht“, sagt sie. „Vielleicht in der Kaffeemaschine?“ Tatsächlich ist gerade diese Forderung nur schwer nachvollziehbar. Denn es handelt sich um ein medizinisches Hilfsmittel, das nur einen Tag getragen werden darf.

Darauf weist der Hersteller aus Baden-Württemberg hin, der nicht genannt werden möchte. „Gesunder Menschenverstand hätte gereicht“, sagt ein Mitarbeiter. Denn es steht alles auf der Packung. Das Kondom werde festgeklebt, danach abgezogen – und weggeworfen. Streng nach den Richtlinien des Robert-Koch-Institutes. Die Forderung des Jobcenters sei „eine Frechheit“, sagt Oma Fischer. „Die sollen sich um die Leute kümmern, damit sie in Arbeit kommen.“

Eine ganze Familie und eine Betreuerin sei eingebunden in die Pflege und spare Geld, weil kein Heim und keine Einrichtung involviert ist. „Wir verbringen lieber Zeit mit Tobias in der Stadt oder in einem Freizeitpark“, sagt sie.

Das alles hat das Bayreuther Gericht in seinem Urteil, das dem Kurier vorliegt, auch berücksichtigt: Das Pflegegeld – Tobias bekommt etwa 700 Euro im Monat – diene eben nicht dazu, die Pflege voll zu finanzieren. Sondern die „Pflegebereitschaft nahestehender Personen zu fördern“. Wäre eine schlecht bezahlte Pflegekraft rund um die Uhr für Tobias da, würde das mehr als 5000 Euro im Monat kosten. Die Familie hat weniger als die Hälfte des Geldes zur Verfügung. Sie bringt nur viel Zeit und noch mehr Zuwendung ein. Und das nicht, so das Urteil, damit Tobias einen Teil des Unterhaltes für seine Kinder zahlen kann, sondern um ihn zu unterstützen.

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