"Erdogan muss vor Gericht gestellt werden"

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Der türkische Journalist Ahmet Sik hat schon vor Jahren vor der Gülen-Bewegung gewarnt, kritisiert aber auch Präsident Erdogan. Im Interview erzählt er, warum er denkt, dass Erdogan Mitverantwortung für den Putschversuch trägt.

 
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Für den Putschversuch vom 15. Juli macht die türkische Regierung die Bewegung um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich. Der investigative Journalist und Autor Ahmet Sik warnte schon vor Jahren vor einer Unterwanderung staatlicher Stellen durch Gülen. Sein Buch «Die Armee des Imams» wurde 2011 beschlagnahmt. Sik wurde beschuldigt, Mitglied des Geheimbundes Ergenekon zu sein und saß ein Jahr lang in Untersuchungshaft. Geleitet wurde das Verfahren gegen Sik von Gülen nahe stehenden Staatsanwälten. 

Sik kritisiert aber auch die jahrelange Förderung Gülens durch die islamisch-konservative Regierungspartei AKP und vor allem durch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bis zum öffentlichen Bruch 2013.

Herr Sik, Sie haben viel über den Einfluss der sogenannte Gülen-Gemeinde («Cemaat») im türkischen Staat geschrieben und sehen sich gleichzeitig als Opfer Gülens. Müssten Sie jetzt nicht gern gesehener Gast in türkischen Talkshows sein?

Sik: Ich würde so ein Angebot nicht annehmen. In den Mainstream-Medien wurde auch ein Embargo über mich verhängt. Denn in meiner persönlichen Geschichte und jener der anderen Opfer ist die Gülen-Gemeinde nicht der einzige Schuldige. Sie hatte einen Mitschuldigen namens AKP.

 Inwiefern hat die AKP Anteil daran, dass Gülen so viel Einfluss im türkischen Staat erlangen konnte?

Sik: Die Geschichte der Gülen-Gemeinde reicht 45 Jahre zurück, darunter 15 Jahre alleine unter der AKP-Regierung. Alle Regierungen seit 1970 sind mitverantwortlich, doch die Hauptverantwortung liegt natürlich bei der AKP. Über die Gülen-Gemeinde zu diskutieren und gleichzeitig die Mitschuld der AKP verheimlichen, ist ein großes Versäumnis. Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdogan müssen wegen Bildung und Leitung einer Organisation zusammen vor Gericht gestellt werden. Eine Alternative gibt es nicht.

Erdogan hat ja sogar zugegeben, dass er Gülen früher unterstützt hat. Er hat sich aber auch öffentlich dafür entschuldigt und gesagt, er habe in «gutem Glauben» gehandelt.

Sik: Ist es nur Recep Tayyip Erdogan gestattet, hereingelegt zu werden? Die anderen, die von der Gülen-Gemeinde hereingelegt wurden, werden verhaftet. Wenn jemand verhaftet werden soll, dann muss man zuerst bei Erdogan anfangen.

In Europa glauben viele an eine Inszenierung des Putschversuchs durch Erdogan. Was denken Sie darüber?

Sik: Der 15. Juli war ein ernsthafter, blutiger Putschversuch. Wir haben gerade noch mal die Kurve gekriegt. Das will ich besonders betonen. Die Sichtweise des Westens ist sehr orientalistisch. Sie blicken mit einem ähnlichen Hass auf Erdogan wie Oppositionelle in der Türkei. Deshalb denken die Menschen im Westen, dass Erdogan den Putschversuch inszeniert haben könnte. Und sie kennen die Gülen-Gemeinde nicht und fragen nicht nach bei Leuten, die sich auskennen.

Im Westen ist tatsächlich wenig über die Unterwanderung des türkischen Staates durch Gülen bekannt. Wie darf man sich das vorstellen?

Sik: Das Ziel der Gülen-Gemeinde ist, die Bürokratie des Staates zu übernehmen, und die Sicherheit zu kontrollieren. Die türkischen Streitkräfte, die Polizei, den nationalen Nachrichtendienst und die Justiz. Diese vier Grundpfeiler bilden das Herz und Hirn des Staates. Nimmt man diese ein, hat man auch den Staat eingenommen. Die Gemeinde kann nichts ohne das Wissen und Einverständnis von (Fethullah) Gülen unternehmen. Alles in allem ist die Gülen-Gemeinde eine heilige Mafia.

Glauben Sie denn, dass Gülen verantwortlich für den Putschversuch ist?

Sik: Ich denke, hinter dem Putsch steckt nicht die Gülen-Gemeinde alleine. Ich glaube, dass es eine Putsch-Allianz gewesen ist.

Wer könnte noch daran beteiligt gewesen sein?

Sik: Ich denke, es waren drei Gruppen im türkischen Militär. Den Hauptteil bilden Soldaten der Gülen-Gemeinde. Die zweitgrößte Gruppe besteht aus Soldaten, deren politische Zugehörigkeit wir nicht kennen, die aber Erdogan- und AKP-Gegner und keine Gülen-Gemeinde sind. Die dritte Gruppe besteht aus Opportunisten, also Soldaten, die daraus Profit schlagen und Karriere machen wollten.

Wie groß ist überhaupt der Einfluss Gülens in der türkischen Armee?

Sik: Militärvertreter haben mir gesagt, dass die Gülen-Gemeinde alleine auf der Ebene der Generäle 30 bis 35 Prozent ausmache. Das ist ein Drittel aller Generäle. Und im Moment sind ein Drittel der Generäle wegen des Putschversuchs in Haft. Und bei den untergeordneten Offizieren sind es nicht weniger als 50 Prozent. Man kann also sagen, dass die Gülen-Gemeinde ein nicht zu unterschätzendes Netzwerk innerhalb der Armee hat.

Hat die türkische Führung also Recht, wenn sie jetzt Tausende in Bürokratie und Armee suspendiert oder entlässt?

Sik: Alle zu verhaften, die für die Gülen-Medien gearbeitet haben oder die irgendwie in Berührung mit der Gülen-Gemeinde waren - Suspendierungen, Entlassungen - all das ist eine Hexenjagd. Das darf nicht sein. Die Regierung steckt all jene, die nicht zu ihnen gehören und die in ihren Augen oppositionell sind, in einen Sack. Um wie viele es sich dabei handelt, wissen wir nicht.

Dennoch stehen ja viele hinter Erdogan. Auf den täglichen sogenannten «Demokratie-Wachen» nach dem Putschversuch wurden Tausende mobilisiert. Auf der Kundgebung im Istanbuler Bezirk Yenikapi waren es Millionen und auch zwei Oppositionsparteien nahmen teil. Sieht das nicht nach Einheit aus?

Sik: Bei diesen Wachen und auch bei der Versammlung in Yenikapi ging es nicht um Demokratie. Es war eine Machtdemonstration. Es ging darum, die Gesellschaft zu militarisieren, die Wählerschaft zusammenzuhalten, und über leicht zu verteufelnde Strukturen die Einheit zu sichern. Dass Oppositionsparteien auf der Versammlung waren, bringe ich in Verbindung damit, dass die  Regierungspartei im Inland und international in Bedrängnis ist. Sie muss ihr Image aufpolieren.

Im Westen warnen viele, darunter Politiker, dass die Türkei einer Diktatur entgegengeht. Haben sie Recht?

Sik: Ja. Natürlich. Aber bereits vor dem 15. Juli gab es genug Anzeichen dafür: Sie (die türkische Führung) teilt die Gesellschaft in jene, die für und jene, die gegen sie sind. Sie beschäftigt nur jene im Staat, die auf ihrer Seite sind und sie betreibt ihre Politik, indem sie alle Hindernisse beseitigt und die Justiz als Fußabtreter benutzt. Ja, das sind diktatorische Eigenschaften.

 

Zur Person:

Ahmet Sik (geboren 1970) gilt als einer der profiliertesten investigativen Journalisten in der Türkei. Seine Recherchen über die umstrittene Gülen-Bewegung verarbeitete er in dem Manuskript «Die Armee des Imam», das 2011 noch vor Veröffentlichung verboten wurde.

dpa

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