"Eine ganze Reihe von Behandlungsfehlern"

Von Moritz Kircher
Erste Fehler in der Behandlung von Sigrid P. sollen schon in der Notaufnahme passiert sein. Archivfoto: Ronald Wittek Foto: red

Dem Klinikum Bayreuth steht neuer Ärger ins Haus. Von "haarsträubenden Behandlungsfehlern" war am Freitag in einer Gerichtsverhandlung mehrfach die Rede, in der eigentlich eine junge Frau aus dem Landkreis Bayreuth wegen fahrlässiger Tötung angeklagt war. Es geht um einen Verkehrsunfall, in dessen Folge eine 76-jährige Frau gestorben ist - nachdem sie laut Gutachten praktisch ohne Therapie sechs Tage im Krankenhaus gelegen hatte.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Es war ein Tag Anfang September 2015. Sigrid P. saß als Beifahrerin in einem Wagen, der auf einer Landstraße im östlichen Landkreis unterwegs war. Das Auto war laut Dekra-Gutachten mit rund 80 Stundenkilometern angepasst unterwegs. Sigrid P. war angeschnallt. Das alles half ihr nicht, als eine 18-jährige Fahranfängerin unachtsam auf die Straße einbog, Sigrid P. und ihrer Fahrerin die Vorfahrt nahm und damit den folgenschweren Unfall verursachte. Ein weiteres Fahrzeug, das an der Kreuzung stand, wurde in den Unfall verwickelt, eine weitere Frau dabei verletzt.

1,6 Liter Blut in der Brusthöhle

Sigrid P. kam gemeinsam mit der Fahrerin des Wagens, in dem sie saß, sofort ins Krankenhaus nach Bayreuth. Was dort in den sechs Tagen bis zum Tode der 76-Jährigen geschah, schildert der Erlanger Gerichtsmediziner Stefan Seidel in seinem Gutachten vor Gericht als eine Kette schwerer Behandlungsfehler.

Sigrid P. hatte gebrochene Rippen, Knochensplitter waren in den linken Lungenflügel eingedrungen und hatten Blutgefäße verletzt. Bei der Obduktion des Leichnams stellte Seidel nach eigener Aussage fest, dass 1,6 Liter Blut über Tage hinweg in die Brusthöhle von Sigrid P. eingesickert waren. Auch in die umliegenden Weichteile war Blut eingedrungen.

Der Blutdruck sackte immer weiter ab

Schon an der Unfallstelle wurde festgestellt, dass die Sauerstoffsättigung im Blut von Sigrid P. niedrig war. Gleiches wurde auf der Station dokumentiert, auf der die ältere Dame schließlich lag. "Daraus hätte man folgern müssen, dass eine Beeinträchtigung der Lunge gegeben ist", sagt Seidel vor Gericht. Im Verlauf der sechs Tage im Krankenhaus sackte der Blutdruck von Sigrid P. immer weiter ab. Das ist aktenkundig. Seidel sagt: "Das hätte bei einem Menschen, der sonst unter Bluthochdruck leidet, ein deutliches Warnsignal sein müssen."

Die 76-Jährige klagte im Krankenhaus laut Akte ständig über Schmerzen in der linken Brusthälfte. Einen Tag vor ihrem Tod seien diese so stark gewesen, dass Sigrid P. ihren linken Arm nicht mehr heben konnte. Der Vorwurf, der im Raum steht: Sie bekam nichts außer Schmerzmittel.

Gutachter kann sich Behandlungsfehler nicht erklären

Seidel weiter: "Zu meiner stärksten Verwunderung hat sich gezeigt, dass kein CT gemacht wurde." Die Fahrerin des Wagens, in dem Sigrid P. gesessen hatte, hat eine solche spezielle Röntgenuntersuchung bekommen. Eine Untersuchung, bei der festgestellt werden kann, ob die Lunge verletzt ist oder Blut in die Brusthöhle eindringt. Das sei "absoluter Standard" bei Unfallpatienten in höherem Alter, sagt der Gerichtsmediziner. Wenn sich ein Klinikum, wie im Fall von Sigrid P., gegen eine solche Untersuchung entscheide, "dann muss man das schon sehr gut begründen".

Bei Sigrid P. wurden dagegen im Verlauf des Krankenhausaufenthaltes mehrere konventionelle Röntgenuntersuchungen gemacht. Selbst darauf habe man sehen können, dass sich Luft und Flüssigkeit in der Brusthöhle ansammeln. "Daraus wurden offenbar keine Schlüsse gezogen", sagt Seidel. "Da hätte eine Punktion vorgenommen werden müssen", so sein Urteil. Zumindest hätten laut Gutachter die Röntgenbilder Anlass sein müssen, die Lunge mit einem Stethoskop abzuhören. Seidel: "Dann hätte man gehört, dass man nichts mehr hört." Die linke Lunge von Sigrid P. habe irgendwann im Verlauf des Krankenhausaufenthaltes nicht mehr an der Atmung teilgenommen.

Blutverdünner trotz innerer Blutung

Auch zwei Blutbilduntersuchungen bei Sigrid P. am ersten und zweiten Tag im Krankenhaus hätten im Verlauf gezeigt, dass maßgebliche Werte sich verschlechtern. Seidel: "Es ist für mich völlig unverständlich, warum dann keine weiteren Blutkontrollen mehr gemacht wurden." Aus den Akten, die vor Gericht zitiert werden, geht hervor: In den letzten drei Tagen vor ihrem Tod bekam die ältere Dame im Klinikum auch noch ein Medikament zur Blutverdünnung. Um Gefäßverschlüssen vorzubeugen, ist das bei Patienten, die viel liegen, durchaus üblich. Jedoch nicht, wenn jemand innerlich blutet. Der Gerichtsmediziner schließt in der Verhandlung nicht aus, dass das Medikament die Blutung noch verstärkt haben könnte.

Der Gutachter beurteilt vor Gericht nicht abschließend, ob Sigrid P. ohne all diese mutmaßlichen Fehler noch am Leben sein könnte. Aber er sagt: "Bei einer ordnungsgemäßen Behandlung wäre sie nicht zu diesem Zeitpunkt verstorben." Bei Patienten in hohem Alter komme es aber auch bei fehlerloser Therapie öfter zu Komplikationen als bei jüngeren Menschen.

"Vernichtendes Gutachten" für das Klinikum

Verhandelt wurde vor Gericht vorerst nur der Fall der heute 20-jährigen Frau, die den Autounfall im September 2015 verschuldet hatte. Verhandelt wurde, ob sie der fahrlässigen Tötung von Sigrid P. schuldig ist. "Es war keine lebensbedrohliche Verletzung", sagt der Strafverteidiger Georg Fischer in seinem Plädoyer, "wenn die Dame richtig behandelt worden wäre". Fischer spricht von einem "vernichtenden Gutachten" für das Klinikum. Ein Gutachten, in dem wörtlich von "therapeutischem Nihilismus" die Rede sei.

Der Staatsanwalt fordert unter den gegebenen Umständen nur eine vergleichsweise milde Strafe von 1500 Euro und vier Wochen Führerscheinentzug, hält aber an seiner Anklage wegen fahrlässiger Tötung fest. Dem folgt Amtsrichterin Andrea Deyerling in ihrem Urteil nicht und verurteilt die junge Frau lediglich wegen fahrlässiger Körperverletzung in drei Fällen zu einer Geldstrafe von 1100 Euro.

Verfahren gegen das Klinikum in Vorbereitung

Das Gutachten habe "in übergroßer Deutlichkeit" festgestellt, dass im Krankenhaus "eine ganze Reihe von Behandlungsfehlern" passiert sei, so die Richterin. Und zwar von so schwerwiegender Art, dass die fahrlässige Tat der Angeklagten nicht mehr als Ursache für den Tod von Sigrid P. bewertet werden könne - ein Sonderfall im Strafrecht, der nur selten zur Anwendung komme.

Die Sache ist damit nicht zu Ende. Zum einen kann die Staatsanwaltschaft noch in Berufung gehen. Und zum anderen - das klingt in der Verhandlung an mehreren Stellen durch - ist ein Verfahren gegen das Klinikum Bayreuth und die behandelnden Ärzte in Vorbereitung.

Bilder