Jennifers Zuhause ist der Nürnberger Hauptbahnhof. Sie wohnt „auf Platte“. Trotzdem sagt sie: „Obdachlosigkeit ist manchmal gar nicht so schlimm, wie alle denken.“
Bayreuther Medienstudenten drehen einen Dokumentarfilm über jugendliche Obdachlose und begleiten sie Tag und Nacht.
Jennifers Zuhause ist der Nürnberger Hauptbahnhof. Sie wohnt „auf Platte“. Trotzdem sagt sie: „Obdachlosigkeit ist manchmal gar nicht so schlimm, wie alle denken.“
Die 21-Jährige ist die Protagonistin in dem Dokumentarfilm „Parallelwelt“. Gedreht wurde er von zwei Bayreuther Medienwissenschaftstudenten. Um Kamera und Schnitt kümmerte sich Kevin Koch, Recherche und Interviews übernahm Franziska Kirchner. Die 25-Jährige kommt ins sechste Semester und absolvierte vor dem Studium in Bayreuth ein Radio-Volontariat: „Jennifers Geschichte ist eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden.“
Der Film entstand als Studentenprojekt im Schwerpunkt Audiovisuelle Medien. Im April dieses Jahres wird der Dokumentarfilm erstmals vor Publikum gezeigt. Die Studenten wollen zeigen: Obdachlosigkeit kann jeden treffen. Ihr Interesse galt Obdachlosen im jungen Erwachsenenalter.
Doch die befreundeten Studenten wollten nicht einfach nur über die sonst so wenig beachteten Außenseiter berichten. Vielmehr entschlossen sie sich, einen Obdachlosen Tag und Nacht zu begleiten. „Uns war es wichtig, dass wir uns aus unserer eigenen Komfortzone heraus begeben“, sagt die 25-Jährige. „Wir wollten ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, so zu leben.“
Auf der Straße, als vernachlässigte Randgruppe, ohne Job und ohne Geld. Fast jeder der Leute, die sie kennenlernte, hatte ein Drogen- und Alkoholproblem. Die Männer und Frauen fallen durchs soziale Raster, sagt Franziska: „Zu alt für ein Jugendheim, zu jung für eine Pflegestation.“
Über das Nürnberger Don-Bosco-Werk und das Programm „Back in Future“ lernte die Bayreuther Studentin Jennifer Ahnfeldt kennen. Heimkind, Mobbingopfer, ohne Ausbildung. Seit drei Jahren lebt sie auf Nürnbergs Straßen. Damit ist sie laut Franziska Kirchner eine von 12.000 obdachlosen Jugendlichen unter 27 Jahren in ganz Deutschland.
Mit dem Don-Bosco-Werk haben Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahren eine Anlaufstelle. Sie erhalten drei Mahlzeiten am Tag und können sich von Sozialarbeitern beraten lassen, die rund um die Uhr erreichbar sind. Die Jugendlichen ohne festes soziales Netz bekommen dort Hilfe auf der Suche nach Praktika, bei Behördengängen und in Krisensituationen. Drogenkonsum ist strikt untersagt. „Es wird versucht, sie zu aktivieren und in einen geregelten Alltag zurückzubringen.“
Die Bayreuther Studenten waren im März und Dezember jeweils drei Tage und zwei Nächte mit Jennifer unterwegs. Zu vielen ihrer ehemaligen Bekannten hatte sie den Kontakt abgebrochen. Nach einem Vorgespräch stimmte Jennifer dem Filmporträt über sich zu. „Wir wollten so natürlich wie möglich mit ihr umgehen“, schildert Franziska Kirchner.
Dafür sei die Ausrüstung für den Dreh klein gehalten worden. Nur zwei Kameras gehörten zum Equipement, damit der Film „seine eigene Dynamik“ entfalten konnte. So sei ein „natürlicher Erzählfluss“ mit authentischen Bildern entstanden. „Wir hatten schnell das Gefühl, dass wir uns mit denselben Dingen befassen“, stellt die Studentin fest, die noch heute via Handy Kontakt zu Jennifer hält und damals nicht wusste, was auf sie zukommt. „Das sind Menschen wie du und ich, mit Gefühlen und teils ähnlichen Werten.“
Trotz der Freude darüber, dass die 21-Jährige den Studenten ihr Vertrauen schenkte, hinterfragten sie immer wieder ihre Lebensweise. „Es wäre falsch, nur aus Mitleid zu handeln“, sagt Franziska Kirchner. „Denn viele der Menschen, die wir getroffen haben, wollen sich nur bis zu einem gewissen Grad helfen lassen. Sie sind meistens nicht komplett unschuldig an der Situation, in der sie stecken.“
So habe auch Jennifer zugegeben, dass es ihr gefalle, einfach in den Tag hinein zu leben. Diese Freiheit sei „schon geil“, wird sie in der Doku sagen. Ein Leben für den Moment. Am Abgrund.
Die Studenten erlebten eine intensive Zeit. Sie erfuhren, wie es ist, nur einen Schlafsack als Besitz zu haben, draußen unter einer Brücke zu schlafen oder sich eine Hütte aus Sperrmüll zu bauen. Hunger zu verspüren, zu frieren, sich nicht zu waschen oder die Zähne putzen zu können. Wie sich Passanten angewidert abwenden oder gleichgültig durch einen hindurchsehen.
„Wir wurden von den Obdachlosen wie selbstverständlich aufgenommen und die wir trafen, haben unser Projekt befürwortet“, sagt Franziska Kirchner. Sie bewundert den Mut ihrer Gesprächspartner, sich zu öffnen und über sich zu sprechen. „Wie verzweifelt diese Menschen gehört werden wollen“, habe sie erschüttert, so die Studentin, die während der gemeinsam verbrachten Zeit keine Angst verspürte. „Die Sprachlosigkeit, die oft gegenüber solchen Menschen herrscht, wollten wir ja gerade überwinden.“
Sensationslust oder Überheblichkeit sei den Studenten nur ein einziges Mal vorgehalten worden – von einem Suchthelfer, der selbst früher ohne Dach über dem Kopf lebte. „Die Leute sind nicht unsichtbar, es gibt sie und wir sollten uns mit ihnen befassen“, sagt Franziska. „Sie brauchen nicht unbedingt Geld. Sie freuen sich auch über einen gespendeten Kaffee, ein Brötchen oder eine Kleiderspende.“
Weil Jennifer nach einigen Monaten einen Freund fand, kam das Filmduo noch ein zweites Mal nach Nürnberg. Sie bemerkten eine Veränderung an der jungen Frau: Sie war schlanker und ausgeglichener. In ihrer Beziehung zu Mike erfuhr Jennifer Wertschätzung und Halt, schildert die Dokumentarfilmerin. Sie will die Mittlere Reife und das Fachabitur nachmachen und mit ihrem Partner zusammenziehen.
Wegen eines Drogendelikts sei sie zwar verurteilt worden, jedoch auf Bewährung freigekommen. Eine neue Chance.
Info: Kinoabend mit Filmgespräch am Freitag, 20. April, 20 Uhr, Cineplex, Broadway, Reihe Specials.