Dorf-Phantom: Das sagt der Psychiater

Von Andrea Pauly
Bezirkskrankenhaus (BKH) am 28.11.2012. Foto: Ronald Wittek Foto: red

Deprivation und Isolation, also fehlende Zuwendung und Abschottung - damit hat das Dorf-Phantom zu kämpfen. Der Mann hatte jahrzehntelang sein Elternhaus nicht verlassen. Welche Folgen kann ein solches Leben haben? Wie könnte die Behandlung von Patienten aussehen, denen eine normale Jugend fehlt?

 
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Darüber hat der Kurier mit Dr. Michael Purucker, Leiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus, gesprochen.

Welche Auswirkungen hat es auf einen Menschen, wenn er seit der Jugend jahrzehntelang keinen Kontakt zu anderen Personen hat außer den Eltern und sein engstes Umfeld nicht verlässt?

Dr. Michael Purucker: Die Persönlichkeit entwickelt sich von Kindheit an bis in die Adoleszenz in bestimmten Phasen. Die normale psychische Entwicklung und die psychische Gesundheit des Erwachsenen hängen sehr stark davon ab, ob in der Kindheit und Jugend die Erfahrung von Fürsorge und von Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit möglich war. Wenn die Entwicklungsschritte nicht unterstützt werden, zum Beispiel durch krankhafte einengende Bindungen, entstehen Schwierigkeiten, die eigenen Grundbedürfnisse zu spüren und ein eigenes Selbstgefühl zu entwickeln.

Tragische Verstrickung mit den Eltern

Die Folgen können schon in der Kindheit und Jugend Ängste und Rückzug sein. Wenn die grundlegenden psychischen Bedürfnisse eines Jugendlichen nicht erfüllt werden, verkompliziert diese so genannte Deprivation den Verlauf extrem. Der Heranwachsende und seine Eltern bleiben tragisch verstrickt. Bei Menschen, deren Entwicklung durch Isolation und Deprivation zum Erliegen kam, sind auch der Verlust von steuernden Ich-Funktionen bis hin zu kleinkindhaften Verhaltensweisen zu erwarten.

Welche Erfahrungswerte gibt es bei der Behandlung eines solchen Patienten?

Purucker: In unserer modernen mitteleuropäischen Gesellschaft ist eine derartige Isolation sicher extrem selten, aber wir sehen immer wieder Fälle mit deutlicher Mangelversorgung – zum Glück so rechtzeitig, dass eine weiterführende Behandlung möglich ist. Die Jugendämter berichten über eine zunehmende Häufigkeit von unzureichender Versorgung. In früheren Jahrzehnten waren uns Einzelfälle bekannt, in denen Heranwachsende mit schwerer Behinderung auf Bauernhöfen versteckt worden waren – auf Grund fehlenden Wissens und aus Angst vor sozialer Ausgrenzung.

Starkes, geduldiges Team ist notwendig

Die Behandlung erfordert zunächst intensive psychiatrische, medizinische und psychologische Diagnostik und eine spezialisierte Station mit einem sehr starken und geduldigen Team aus Ärzten, Fachpflege, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten und anderen. Wie weit eine Behandlung noch psychische Entwicklung ermöglicht, hängt von dem Ausmaß der Behinderung oder der Erkrankung ab. In jedem Fall ist eine lange Behandlungsdauer notwendig. Für Patienten und Angehörige ist das mit enormen Umstellungsprozessen, auch mit Ängsten, verbunden.

Welche sozialen Fähigkeiten lernt man üblicherweise als Jugendlicher, als Erwachsener?

Purucker: Die soziale Integration ist sehr komplex und erfordert eine stabile Ich-Entwicklung mit Sprache, Selbstwahrnehmung, Austausch mit Anderen, Triebbewältigung und vielem mehr. Die Voraussetzungen für soziale Fähigkeiten entwickeln sich daher in der Kindheit bis zur Pubertät, wobei auch hier die Erfahrungen und das Lernen in den Familienbeziehungen von zentraler Bedeutung sind. Für die Entwicklung einer Identität sind für Jugendliche Erfahrungen außerhalb der Familie und eigene Beziehungen zu Gleichaltrigen zentral.

"Der Betroffene darf nicht überfordert werden"

Ist es aus Ihrer Sicht überhaupt möglich, so etwas aufzuholen? Wenn ja: Wie?

Purucker: Wenn die Deprivation im Zusammenhang mit psychischer Erkrankung steht, geht es bei der Behandlung um die Entwicklung grundlegender psychischer Fähigkeiten. Diese zu erlernen, erfordert spezialisierte Verfahren. Der Betroffene darf nicht überfordert werden. Es geht zunächst um die Fähigkeit, in einem beschützenden Setting zurechtzukommen, dann kann die Überleitung in eine therapeutische Wohneinrichtung erfolgen.

Welche Rolle spielt die gesellschaftliche Entwicklung, zum Beispiel bei Technik, Medien und Kommunikation?

Purucker: Es ist klar, dass Menschen bei extremer Isolation und Deprivation mit diesen Entwicklungen keinerlei Erfahrungen gesammelt haben und die Anforderungen zum Beispiel der modernen Kommunikationstechnik zunächst allein nicht bewältigen können.

Überforderung, Unsicherheit, Angst

Mit welchen Problemen kämpfen Menschen, die lange Zeit von der Öffentlichkeit abgeschottet waren?

Purucker: Krankheitsbedingte und psychologisch nachvollziehbare Probleme führen dazu, dass der Aufenthalt im öffentlichen Raum mit Überforderung, Unsicherheit und Ängsten verbunden ist, insbesondere wenn schwere psychische Störungen vorliegen. Die Betroffenen sind kaum in der Lage, sich zu verständigen und sich zu behaupten. Die psychiatrische Klinik bietet da einen Schutzraum.

Die Angaben von Dr. Michael Purucker beziehen sich aber nicht auf den konkreten Fall, sondern sind allgemein gültig.

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