Einladung zum Spiel: Die Lyrikerin Lydia Daher las im Forum Phoinix Die Welt in lauter Schnipseln

Von Michael Weiser
Grenzgängerin: Lydia Daher bei ihrem ersten Auftritt in Bayreuth vor zwei Jahren. Foto: Archiv Foto: red

Die Schönheit des Experiments: In einer Lesung im ausverkauften Forum Phoinix stellte die Augsburger Lyrikerin Lydia Daher ihren neuen Gedichtband „Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies” vor. Sperriger Name, wunderbar leichte Texte.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Ihr Rohmaterial sind Zeitungen, genauer: Literaturbesprechungen. Für ihren neuen Gedichtband „Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies” hat Lydia Daher Wort- und Satzschnipsel ausgeschnitten und zu neuen Texten zusammengefügt. Die sie dann mit dem Tablet in der Hand vorträg, während der Beamer Bilder an die Wand wirft, Bildcollagen, für die wiederum die Zeitung das Rohmaterial liefern.

Cut-up-Lyrik nennt sich das Verfahren, es hat den Charme des Experimentellen und lädt überhaupt zum Nachdenken ein. Beispielsweise über Medientheorie: Wie es ist, wenn sich die Zeichen vom Trägermedium lösen, ins freie Spiel gelangen, um sich schließlich erneut auf Papier in neuer Ordnung  zusammenfügen?  Man kann auch über unsere Wahrnehmung nachdenken. Die Welt in Schnipseln: Haben  uns unsere Sinne jemals etwas anderes geliefert als Einzelteile, die das Hirn gefälligst zusammenbauen soll?

Man könnte sich Gedanken machen, geriete sicherlich auf interessante Wege - und machte doch einen Fehler. Denn man versäumte viel Sinnlichkeit. Lydia Daher kann ihr lyrisches Experiment ganz zauberhaft vortragen, wie sich in der intimen Atmosphäre des Forum Phoinix an der Kämmereigasse zeigt. Eine zarte Frau mit fester Stimme, die ihre Gedichte gut rhythmisiert - man merkt die Erfahrung der Poetry Slammerin - und selbstironisch kommentiert. Die Qualität der an die Wand projizierten Bilder reicht nicht an die im Buch heran. "Da sitzt eigentlich so'n Paar im Dunkeln, hm, das sieht man jetzt nicht", sagt sie, es klingt entschuldigend und doch auch wieder gut gelaunt. 

Es gefalle ihr, wie alles mit allem in Kontakt treten und miteinander kommunizieren könne, sagt sie. Deswegen auch die Bilder: Informations- und Bilderschnipsel, die - wenn man nur genug an die Kraft der Poesie glaubt - sich in neuen Zusammenhängen formieren. Ein Spiel der Gedanken, Assoziationen und Wörter, das durch Leitplanken selbst auferlegter Regeln neue  Freiheit erhält. Regeln und Freiheit? Auch Fußball, der Sport allgemein gewinnt Freiheit und entfaltet Schönheit erst dank seiner Regeln. Sportlich hat auch Lydia Daher ihre selbstgestellte Aufgabe aufgefasst: Mindestens ein Cut-up-Text pro Woche, immer nur aus den Schnipseln eines einzigen Text zusammengesetzt. "Da habe ich nicht geschummelt", sagt sie. Höchstens mal ein benötigtes und nicht vorgefundenes Wort aus einzelnen Buchstaben zusammengefügt.

Und noch eine Regel gibt es, sie nennt es den Lydia-Ton. "Ich finde es wichtig, dass mein Ton erhalten bleibt", sagt sie. Verblüffend genug, dass ihr das gelungen ist: Lydia Daher hat aus den Textschnipseln Gedichte gemacht, die - wie ihre ganz herkömmlich per Hand geschriebenen Texte auch - von versponnener Schönheit sind, von eigentümlicher schwebender Leichtigkeit. Man erkennt sie wieder, auch im listig geführten Seitenhieb auf die vom Feuilleton überwachten Sitten im Poesiebetrieb. "Es kommt immerhin kein Ich vor", heißt es in einem ihrer Gedichte. Stimmt ja irgendwo, das Ich steht nicht im Vordergrund. Man ahnt es aber doch, in jeder Zeile. 

Schöne Erlebnisse im Einzelnen, diese 101 Collagen, im Gesamten ein Appell zum Spielen: Auseinandernehmen das Ganze, und dann wieder neu zusammenbauen. Mal schauen, was dabei passiert.

INFO: Das Buch zur Lesung: „Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies. 101 Collagen“, Voland & Quist, 17,90 Euro.