Die vergessenen Kriegskinder

Von Peter Engelbrecht
Die Waisenkinder inmitten ihres Amtsvormundes Kreisler. Das Foto stammt aus der Zulassungsarbeit von Johannes Mayer, es dürfte aus dem Jahr 1947 stammen. Foto: red

Ein vergessenes Stück Nachkriegsgeschichte spielte zwischen 1945 und 1953 im Hotel Bergfriede in Oberwarmensteinach: Dort waren in einem Auffanglager elternlose Kinder und Jugendliche untergebracht. Einzelne Karteikarten aus dem Archiv erinnern an ihre Namen, doch ihre Spuren haben sich verloren.

 
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In dem früheren Hotel am Berghang gegenüber der Kirche in Oberwarmensteinach ist heute ein Seminarzentrum untergebracht. Christian Brüser vom Hausteam weiß nichts von dem früheren Waisenheim, zu lange liegt das Kriegsende zurück. Die einzige Erinnerung ist eine Ansichtskarte aus den 30er Jahren, die das stolze Hotel Bergfriede am Hang zeigt. Von außen schaut es heute unverändert aus: Ein mächtiger Bau mit einer markanten Gaube. Auch der Warmensteinacher Bürgermeister Axel Herrmann hat noch nie etwas von dem Waisenheim gehört. Als hätte es diese Einrichtung nie gegeben...

Sie waren vier bis 14 Jahre alt

Die entscheidende Spur führt über eine Zulassungsarbeit der Pädagogischen Hochschule Bayreuth. Der angehende Volksschullehrer Johannes Mayer hatte sie im Mai 1967 unter dem sperrigen Titel "Die Aufnahme und Eingliederung heimatvertriebener Zuwanderer nach dem Zweiten Weltkrieg in Stadt und Landkreis" geschrieben. Ein Kapitel dieser wissenschaftlichen Arbeit befasst sich mit dem "Kinderauffanglager Oberwarmensteinach (1945 bis 1953)". Elternlose Vertriebenenkinder im Alter von vier bis 14 Jahren seien dort aufgenommen worden, berichtet Mayer. Die Einrichtung war notwendig geworden, nachdem im Regierungsflüchtlingslager Bindlach, in dem täglich bis zu 4200 Personen durchgeschleust wurden, alleinstehende und elternlose Kinder aufgetaucht waren. Sie hatten ihre Familien verloren - auf der Flucht, im Zuge der Vertreibung, durch Bomben- und Tieffliegerangriffe, Verschleppung der Mütter oder Festnahme der Väter.

Ihr Zustand war katastrophal

"Die Kinder wussten oft nicht einmal ihre Familiennamen, ihren Geburtstag oder ihre Heimatstadt. Ein Teil der Kinder sprach bei der Ankunft im Lager kein Wort Deutsch", schrieb Mayer. Ihr gesundheitlicher Zustand sei katastrophal, ihre seelische Verfassung unbeschreiblich gewesen. Das Flüchtlingskommissariat Bayreuth habe schließlich das Sammelheim für die versprengten und elternlosen Kinder eingerichtet. Verantwortlich war der damalige Flüchtlingskommissar Kreisler, der auch zum Amtsvormund bestellt worden war. Das Heim entwickelte sich zur Zentralstelle für alle in Oberfranken aufgefundenen Kinder, später sogar für ganz Nordbayern. Bis zu 70 Kinder wurden demnach in Oberwarmensteinach gesammelt, der tägliche Verpflegungssatz betrug 1,20 Mark. Die Kinder wurden von einer ausgebildeten Heimleiterin und drei Kindergärtnerinnen betreut, das Hauspersonal zählte acht Helfer.

Das Heim wurde 1953 aufgelöst

Durch fürsorgliche Betreuung konnten die Kinder "erstmals wieder in ordentliche menschliche Verhältnisse gebracht werden", mit regelmäßigen Malzeiten, sauberer Kleidung und zufriedenstellenden Wohnverhältnissen, schrieb Mayer. Ein Teil der Zöglinge wurde in die Volksschule Oberwarmensteinach eingeschult, die Schulentlassenen bekamen eine Berufsausbildung. Parallel dazu wurden Suchaktionen eingeleitet und Zusammenführungen mit den Eltern betrieben. Das Heim bestand bis 1953, wurde denn aus dem Bereich der Kreisverwaltung genommen. Später diente es als "Landschulheim Berlin".

Karteikarten aus dem ITS-Archiv

Karteikarten aus dem Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen, die der ITS auf Anfrage in Kopie zur Verfügung stellte, nennen Namen von drei Jugendlichen, die 1947 und 1948 in Oberwarmensteinach untergebracht waren. Demnach handelte es sich um Margit Wohlrab, geboren 1932 in Horosedt in der CSR, Wilhelm Stich, geboren 1933 in Politz in der CSR, und Alice Zitterbart, geboren 1933 in Karlsbad in der CSR. Das Heim trug in den Akten den Namen "Kinderauffanglager" oder "Haus Bergfriede".

Ein Dokument vom September 1949 beziffert die Zahl der untergebrachten Kinder auf 45. Seit Kriegsende haben demnach 14 Kinder das Heim wieder verlassen. "Es ging um die Suche nach Kindern der Vereinten Nationen, also um nicht-deutsche oder zwangsweise eingedeutschte Kinder, die durch die Alliierten beziehungsweise den ITS betreut worden wären", erläutert ITS-Pressesprecherin Kathrin Flor. Dafür seien alle Einrichtungen und Jugendämter angeschrieben worden, die mit der Unterbringung von Kindern zu tun hatten.

Eis von den Amerikanern

Eine Nachbarin des früheren Kinderheims weiß aus Erzählungen einiges über die Einrichtung, will aber ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Ihre Schwiegermutter habe in dem Heim zu der betreffenden Zeit als Wirtschaftsleiterin gearbeitet. Die Kinder seien von jungen Kinderpflegerinnen und Kindergärtnerinnen betreut worden, erzählte die Schwiegermutter. Die Eltern seien teilweise wiedergefunden worden, hätten ihre Kinder dann abgeholt. Einige der früheren Insassen seien Mitte, Ende der 80er Jahre nach Oberwarmensteinach gekommen, um sich von ihr, der Nachbarin, das frühere Heim zeigen zu lassen. "Wenn sie schlechte Erinnerungen gehabt hätten, wären sie nicht wiedergekommen", deutet die Nachbarin die vereinzelten Besuche. Eines der verwaisten Mädchen sei später Ordensschwester geworden. Sie habe bei einem Besuch erzählt, dass die Amerikaner einmal pro Woche im Waisenheim Eis verteilt hätten. Alles Geschichte. Weitere Spuren gibt es offenbar nicht.

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