Die unendliche Bibliothek

Von Michael Weiser

Die Digitalisierung hat auch Bibliotheken längst erfasst. Und es verändert sie. Die Technik birgt Chancen für die herkömmliche Bücherei, es vernetzt sie, potenziert ihre Wirkung. Und sie birgt Risiken für die Nutzer. Denn wer liest, hinterlässt Fußabdrücke.

 
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Jorge Luis Borges hat in seiner Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ eine Bücherei beschrieben, bei der er offenlässt, ob sie ihm nur ähnelt oder ob sie es tatsächlich ist: das Universum. Diese Bibliothek enthält eine unendliche Zahl von Büchern in allen möglichen Buchstabenkombinationen. Also alle möglichen Bücher in allen Sprachen. Aufbewahrt werden sie in unendlichen vielen Sälen, die sich um Schächte gruppieren, in unendlich vielen Stockwerken.

In den allermeisten Fällen können die Nutzer oder besser Bewohner dieser Bibliothek nichts mit den Büchern anfangen, sie finden nur sinnlose Buchstabenreihen: „Auf eine einzige verständliche Bemerkung entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhangloses Zeugs.“ Auf der Suche nach Sinn wandern Tausende von Menschen durch endlose Korridore, es bilden sich Sekten, die einander erbittert bekriegen.

Eine Datenwolke wie ein Universum

Borges hat diese Geschichte 1941 geschrieben, und natürlich konnte er noch nichts ahnen vom Internet und von der Digitalisierung, die wahrscheinlich (und auf jeden Fall gefühlt) pro Stunde mehr Daten erzeugt als frühere Epochen in Jahren. Einen Berg von Pixeln, Bits und Bytes. Und es ist fast schon so wie in der Geschichte von Borges. Meilenlang Sinnloses, und dazwischen auch Erhellendes, Sinn und Botschaft. Auf der Suche begegnen einander die Menschen dieser Welt, tauschen sich aus, streiten. Ein Universum auch diese unendliche Datenwolke. Nur dass diese Bibliothek keinen Raum benötigt (außer den für Server-Farmen), dass sie kein Papier verbraucht, nur Strom.

Und: Sie ist nicht die einzige Bibliothek.

Borges „Bibliothek von Babel“ bewahre ich in einem Regal auf, in einem schwarz gebundenen analogen Speichermedium namens Buch. Ein Medium, das Platz benötigt und daher unpraktisch zu sein scheint, seinen Reiz aber nicht verloren hat. Das Gefühl, etwas Festes und geheimnisvoll Lebendiges in den Händen zu halten, das Rascheln der Seiten... „Haptisch“ nennt man dieses Erleben und meint damit: etwas greifen, es begreifen zu können. Und so ganz unpraktisch ist es ja nicht. Allein durch die Möglichkeit, schnell und unkompliziert im Text hin und her zuspringen. Indem man vor oder zurückblättert. Seit zehn, fünfzehn Jahren hört man nun schon die Abgesänge auf das papierne Buch, offenbar ohne Wirkung. Rund 90 000 gedruckte Titel kommen alleine in Deutschland jedes Jahr auf den Markt. Aber: Die Digitalisierung hat auch die Bibliotheken schon längst erreicht. Mit Chancen. Und Risiken.

Vorteile auch fürs RW21

Keine Konkurrenz oder gar Kannibalisierung kann Claudia Dostler von der Bayreuther Stadtbibliothek in der Digitalisierung entdecken. „Das ergänzt sich“, sagt sie. Im RW21 gibt es W-Lan und alle möglichen elektronischen Medien. Über Franken onleihe kann man – unter anderem – E-Books auf sein Lesegerät laden. „Ich kenne auch Leute, die lesen parallel: Zu Hause im Buch, auf Reisen gerne im E-Book-Reader. Schon aus dem Grund der Gewichtsersparnis – ein Argument bei Flugreisen.“

Bibliotheken gehen mit der digitalen Revolution. Sie sind zu Treffpunkten geworden, der öffentliche Raum schlechthin einer Stadt. Eine Bibliothek wie das RW 21 liefert nicht nur Wissen und Literatur, sondern bietet Theater, Performances, Konzerten eine Bühne. Auch Ausstellungen gibt es im RW 21. Und man kann sein Mittagessen und seinen Kaffee dort einnehmen. Im Sommer bevorzugt auf der Dachterrasse. In seinem Café beschäftigt das RW21 Behinderte – auch so sieht Teilhabe aus. „Wir sind ein Knotenpunkt in Bayreuth geworden“, sagt Dostler.

Häuser wie die Bayerische Staatsbibliothek mit ihren Millionen und Abermillionen Büchern arbeiten mit Google zusammen, um urheberrechtsfreie Bücher digitalisieren zu lassen. Wer beispielsweise Max Stirner, den Bayreuther Propheten der Anarchie, lesen möchte, kann dies bequem am Bildschirm tun. Ganz zu schweigen von den Katalogen, die das Datenwissen vieler Universitäts- und Stadtbibliotheken erschließen. Viele alte Bücher und sogar mittelalterliche Urkunden würden ohne Digitalisierung komatös in Magazinen vor sich hindämmern. Und die Orientierung ist selbstverständlich einfacher als in Borges’ Bibliothek. Sie machen Kultur und Geschichte allgemein zugänglich. So auch die Staatsbibliothek – mit einer virtuellen Ausstellung.

Allerdings gibt es Haken. Wie man bei Amazons Tipps sehen kann: „Wer dieses Buch gelesen hat, dem gefällt auch...“ „So gerät man in eine Bubble“, sagt Michael Zöllner, Professor für Mediendesign an der Hochschule in Münchberg. Heißt: Gefangen in seiner Wohlfühlblase, bekommt man nur vorgelegt, was einem nach Amazons Meinung gefällt und frommt. Wer gute Überraschungen schätzt, dem sei also zum Buchhändler des Vertrauens geraten. Nur dort kann man finden, wonach man nicht gesucht hat. Also das wahre Leben in seiner schönen Form.

Diktatoren können sich die Hände reiben

Konzerne wie Google wollen Geld verdienen. „Die Ware, mit der sie das tun, sind Daten. Daten der Nutzer“, sagt Zöllner. Sehr einfach geht das über Lesegeräte wie den Kindle von Amazon, die dem Konzern nicht nur mitteilen, was ein Leser liest, sondern auch, was er sich in seinem Gerät markiert, wo er steckenbleibt, ja, ob er das Buch überhaupt zu Ende liest. Wer will Amazon trauen? Wer die Kindle-App auf seinem Smartphone nutzt, rückt noch mehr Daten heraus. Zum Beispiel, wo er liest. Und wann. Ergänzt mit vielen anderen digitalen Spuren, die nahezu jeder Mensch hinterlässt, ergibt sich ein komplexes, genaues Bild eines Nutzers, seines Gewohnheiten, Vorlieben und Schwächen, der Menschen, mit denen er Kontakt pflegt, der Orte auch, an denen er sich bevorzugt aufhält. Zöllner sieht darin eine große Gefahr: „Hätten die Nazis diese Mittel gehabt, praktisch kein Mensch hätte eine Chance gehabt, ihrem Regime zu entkommen.“

Eine unglaubliche Menge von Daten über harmlose Leser kommt zusammen, man kann eigentlich nur hoffen – und die Hoffnung ist schwach – , dass es in dieser dann wahrhaft unendlichen Bibliothek so zugeht wie in der von Borges. Bei ihm wandern die Inquisitoren durch die endlosen Gänge, halten jahrzehntelang Ausschau, können sich vor lauter Überforderung keinen Reim auf nichts mehr machen. Und irgendwann sterben sie, und die Körper stürzen durch die unendlichen Schächte. Bis sie sich im Fallwind auflösen.

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