Die 35.000-Kilometer-Frau

Von Andrea Pauly
Die Langstrecken-Wanderin Christine Thürmer am Bayreuther Bahnhof. Foto: Andreas Harbach Foto: red

Christine Thürmer hat ihren Job als Geschäftsführerin verloren und ist einfach losgelaufen: Ohne Training, aber gut organisiert. Mittlerweile ist das Wandern ihr Leben: 35.000 Kilometer ist sie bereits gelaufen, seit Jahren hat sie keinen festen Wohnsitz mehr. Beim Leselust-Festival liest sie heute ab 19 Uhr im Zentrum aus ihrem Buch "Laufen. Essen. Schlafen." Im Interview erzählt sie von ihrem außergewöhnlichen Leben.

 
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Wandern – dieser Begriff steht für manche Menschen sinnbildlich immer noch für Kniebundhosen, Hut und Rucksack mit Brotzeit. Wenn Sie vom Wandern reden, woran denken Sie?

Christine Thürmer: Ultraleicht. Das ist der Schlüssel zum Erfolg. Es geht um die Optimierung des Rucksackgewichts: Ich bin eine von denjeigen, die Zahnbürsten absägen und Etiketten aus der Kleidung trennen. Wandern ist bei mir total auf Gewicht optimiert.

Draußen sein, Tausende Kilometer laufen, im Zelt oder in der Hängematte schlafen: Was bekommen Sie für den Verzicht?

Thürmer: Das Glück, das große Glück! Das Wandern ist die Reduktion auf das Minimum. Ich habe vier Dinge bei mir: Wasser, Proviant, Wärme in Form von Kleidung und Schlafsack und Wetterschutz in Form von Zelt und Regensachen. Das wiegt bei mir fünf Kilo. Alles was über das Minimum herausgeht, ist Luxus: Das Schlafen in einem Bett, die Dusche am Morgen statt Waschen im Bach.  Das ist Luxus.  

Was braucht man beim Wandern nicht, wovon alle glauben, dass man es braucht?

Thürmer: Wanderstiefel. Alle, die das professionell machen, laufen in leichten Schuhen, das sind die so genannten Trailrunner. Darin bekommt man auch keine blutigen Blasen. Turnschuhe passen oder sie passen nicht. Und wenn man ultraleicht unterwegs ist, knickt man auch auf Unebenheiten nicht um.

Regenjacken sind alle gleich schlecht

Ist die ultraleichte Ausrüstung nicht teuer?

Thürmer: Das kostet gar nicht so viel. Ich habe meistens kein Zelt, sondern ein Tarp, also eine Plastikplane, die Schuhe sind auch preisgünstig. Einen Kocher kann man sich aus Coladosen bauen. Mein Rucksack wiegt 500 Gramm. Den habe ich aus den USA. Aber ultraleichte Ausrüstung gibt es in Deutschland kaum. Das sind Garagenfirmen, ein ganz kleiner Markt mit Nischenanbietern. Schuhe und Socken kaufe ich hier beim Sportdiscounter. Meine Regenjacke hat 9,95 Euro gekostet, und die ist genauso schlecht wie eine teure Goretex-Jacke. Es gibt nämlich keine guten. 

Cheryl Strayed und Christine Thürmer

Sie sind nicht die erste Frau, die über den Pacific Crest Trail geschrieben hat. Das Buch „Wild“ von Cheryl Strayed ist vor kurzem durch die Verfilmung mit Reese Witherspoon viel bekannter geworden. Kann man Ihre Erfahrungen vergleichen?

Thürmer: Nein. Es gibt zwei Motivationen für solche Wanderungen - und das unterschiedet uns. Für Cheryl Strayed steht im Vordergrund, dass sie von etwas weg will, der Trail ist eine Art Heilmittel. Als sie den Konflikt bewältigt hat, ist sie runter vom Trail. Das sieht man auch oft bei Pilgern. Die machen das nicht lange, sie ändern ihren Lifesyle nicht. Ich habe eine Auf-etwas-zu-Motivation. Ich war Geschäftsführerin. Das hat mir damals viel Spaß gemacht. Dann dachte ich mir: Karriere hab' ich gemacht, jetzt gehe ich wandern. Diese Motivation trägt länger. Das ist kein Mittel zum Zweck, sondern man wandert, weil das Wandern so toll ist. Wer sich unterwegs selbst sucht, hat sich schon verloren.

Cheryl Strayed hatte ja einiges an Gepäck dabei - nicht nur einen 30 Kilo schweren Rucksack, sondern auch emotional.

Thürmer: Wenn man zu Wetter und Schnee auch noch einen Packen hausgemachte Probleme hat, wird es viel schwerer. Ich hatte keine inneren Kämpfe, auch wenn die Leute das in meinem Buch immer vermissen. 

Seit 2008 obdachlos

Ich muss eine sehr deutsche Frage stellen: Wie organisiert man so etwas?

Thürmer: Ich bin seit Jahren obdachlos. Ich habe 2008 meine Wohnung gekündigt. Ich habe eine Meldeadresse bei Freunden, die brauche ich für die Ämter und die Kassen. Ich habe mich gründlich beraten lassen, das war alles durchgeplant. Ich bin einmal im Jahr in Deutschland, dann habe ich für die Zeit ein WG-Zimmer. Ich habe einen Postbeauftragten und bin Expertin in solchen Dingen wie Onlinebanking und Nachsendeaufträgen.

Manche träumen davon, so etwas zu tun wie Sie. Worauf müssen sich die Menschen einstellen, die ernsthaft darüber nachdenken?

Thürmer: Die Leute kommen immer mit zwei Fragen, die aus meiner Sicht irrelevant sind: Erstens, wie finanziert man es? Es ist so billig, unterwegs zu sein, das kann man sich zusammensparen. Das Zweite ist die Fitness. Dabei hat man unterwegs Zeit genug, fit zu werden. Ich bin aus dem Stand losgelaufen. Das Entscheidende ist was ganz anderes: Was machen die Leute, wenn ihnen das gefällt? Du bist versaut fürs Leben! Geld wird uninteressant. Wie willst du eine Familie gründen? Ich habe die Hälfte meiner Freunde verloren, weil ich nicht mehr ab und zu ein Bier mit ihnen trinken kann.

Eine Beziehung zu führen ist total schwierig, bei Familienplanung ist das ganz dramatisch. Da sind junge Typen, die wollen das eigentlich machen. Sie lieben ihre Frau und ihre Kinder, aber sie zerreißt es. Es gibt einen Punkt, an dem es kein Zurück gibt. Deshalb rate ich den Leuten immer, erst Karriere zu machen. Gerade jungen Leuten sage ich: Lernt etwas, was man temporär machen kann. Krankenschwestern, Ärzte, wo man ein paar Monate halbwegs Geld verdienen kann. Die meisten Wanderer, die ich kenne, sind Kellner und Skilehrer. 

Allein als Frau in der Wildnis: Was hilft gegen die Angst?

Thürmer: Ach, meine Hassfrage!  Wenn mir jemand was Böses wollen würde - der weiß ja nicht wo ich bin. Da steht keiner im Winter im Wald und wartet, bis eine wie ich vorbeikommt. Vorher friert der doch fest.  Es ist einfach unrealistisch. Der Wald ist so groß, ich bin so klein. Und Wanderer unter sich betrachten sich irgendwie als asexuell. Ich hatte nie eine Situation mit Männern, in der ich mich unsicher gefühlt hätte.

Was ist mit wilden Tieren? Schlangen? Bären?

Thürmer: In Europa gibt es nichts, was mir gefährlich werden kann. Wölfe haben besseres zu tun, als auf mich Jagd zu machen. Die meiste Angst hab ich vor Zecken. Wilde Tiere werden völlig überschätzt. Die  Klapperschlangen klappern eben. Das Risiko sehe ich wie einen Unfall auf der Autobahn. Das ist mehr die Angst vor dem Ungewohnten.

Schokolade ist wichtiger als Landschaft

Gibt es Orte, an die Sie sich besonders gern erinnern? 

Thürmer: Die Natur wird für jemanden wie mich zur Kulisse. Es spielt keine Rolle, ob ich durch die Uckermark oder die Rocky Mountains wandere. Die Landschaft ist nicht entscheidend, sondern der Devisenkurs  und die Verfügbarkeit von Aldi und Lidl, damit ich meine Schokoladenvorräte auffüllen kann. Die Logistik steht im Vordergrund, so schön die Landschaften auch manchmal sind.

Haben Sie einen Profitipp für Menschen, die ohnehin schon viel draußen sind?

Thürmer: Sich von den Wanderstiefeln, die hier in Europa immer noch das Credo sind, zu verabschieden. Das ist unheimlich befreiend. Beim Wandern ist der größte Luxus, dass man leicht und unbeschwert wandert. Ein zweites Paar Schuhe für die halbe Stunde abends am Lagerfeuer - das wiegt das Herumtragen dieser Schuhe nicht auf.

Welcher Wanderung steht als nächstes an?

Thürmer: Ich laufe ja nach günstigem Devisenkurs, also hänge ich in Europa fest. Ich will von Nord nach Süd, da habe ich schon die Hälfte. Und von Ost nach West. Von Deutschland nach Santiago bin ich schon gewandert, jetzt kommt Osteuropa. Ab 1. Juli geht es nach Bulgarien und durch die Tatra.

 

Christine Thürmer liest am Freitag, 27. Januar, ab 19 Uhr beim Leselust-Festival im Zentrum aus ihrem Buch "Laufen. Essen. Schlafen. Eine Frau, drei Trails und 12.700 Kilometer Wildnis."

Hier geht es zu ihrem Blog.

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