Medienrevolution im Forum Phoinix: Dirk von Gehlen über Kunst und Journalismus im Wandel Der digitale Klimawandel

Nix ist fix: Dirk von Gehlen spricht im Forum Phoinix über den digitalen Wandel. Foto: Silz Foto: red

Gibt es irgendeinen Bereich, der nicht von der Digitalisierung betroffen ist? Mag sein, dass man diesen Freiraum noch entdeckt. Ansonsten aber, und vor allem für Geschriebenes und Geschaffenes, für Texte, Kunst und Musik, gilt: Was digital werden kann, wird digital werden. So sieht es Dirk von Gehlen von der Süddeutschen Zeitung, der am Dienstag in der Sübkültüt zu Gast war.

 
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Wie fest, wie unveränderbar ist Kultur? Gar nicht mehr, sagt Dirk von Gehlen. Kultur hat ihren Aggregatzustand verändert. Durch die digitale Revolution ist sie verflüssigt worden. Und mit ihr althergebrachte Denkmuster und Gewissheiten. Im Forum Phoinix trug von Gehlen  Thesen aus seinen Büchern "ENVIV - Eine neue Version ist verfügbar" und "Mashup - Lob der Kopie" vor. Und stellte sich hinterher den Fragen der Digital Natives. Ein Anfang, kein Abschluss, ein Impuls eher als eine klare Marschroute. Im Prozess der Digitalisierung ist noch alles im Fluss.

Die Verflüssigung der Kultur

"Die digitale Kopie löst Daten von ihrem Träger. Daten werden sozusagen flüssig", sagt Dirk von Gehlen und projiziert bearbeitete Fotos auf die Leinwand: Radfahrer, denen das Fahrrad unterm Hintern wegretuschiert wurde. Die Radfahrer stehen einerseits für die Daten, die keinen Träger mehr brauchen. Andererseits inspirierten sie zahlreiche Nachahmer. "Jeder kann teilnehmen. Dadurch entsteht eine neue Art von Volkskultur."

Dirk von Gehlen sieht die Kreativen und Journalisten oft noch an herkömmlichen Medien kleben: "Warum glauben wir bei Word im Computer, wir spannten ein Blatt Papier in die Schreibmaschine ein?" Er erinnert an die Geschichte vom Pumuckl, der versucht, den ersten Schnee hinein in die warme Werkstatt  zu holen und dann verständnislos vor einer Wasserpfütze steht. "Wir versuchen, das Digitale mit analogen Mitteln zu kopieren." Kultur verschwindet nicht, sagt er, sie verändert ihren Aggregatzustand. "Das ist ein Klimawandel, den wir erleben."

"Alles, was digital werden kann, wird digital werden", zitiert von Gehlen einen Propheten des Internetzeitalters. Überall steckt Rechenleistung, alles vernetzt sich. "Ein Auto ist Software", sagt er, vieles andere sei auch Software. Um so erstaunlicher, dass Bücher und überhaupt die Kultur nicht als Software betrachtet würden. Immer wieder kommt von Gehlen auf das Beispiel eines Fußballspiels zu sprechen: "Man kann hinfahren, man kann mitfiebern. Man kann aber auch später das Ergebnis anschauen. Das Ergebnis alleine lässt sich unheimlich schlecht monetarisieren. Die Teilnahme am Erlebnis lässt sich unheimlich gut monetarisieren."

Warum sollte etwas Ergebnis sein, abgeschlossen, fertig, definitiv? "Ich sehe keinen besonderen Wertzuwachs dadurch, dass etwas besonders lange herumliegt", sagt von Gehlen und singt damit das Lob der immer wieder verbesserten Fortschreibung eines Programms, das früher einmal Buch hieß. Oder Gemälde. Oder Lied. Oder Zeitung. "Wikipedia ist die verflüssigte Form des Brockhaus." Und was beim Brockhaus eine Katastrophe wäre, wird hier zum Vorteil: ein Fehler. Für Wikipedia ist das die Möglichkeit, eine neue, bessere Version herzustellen, kein Geheimnis aus dem Lernprozess zu machen und zu Fehlern zu stehen. "Das Stehen zu Fehlern", mein Gehlen, "ist ein Ausweis von Qualität."

Was ist eigentlich dieses Internet?

"Alle Medien bisher waren eine Rampe", auf der etwas präsentiert wurde", behauptet von Gehlen. "Das Internet ist keine Rampe, es ist ein sozialer Raum. Und da passiert etwas, was ich spannend finde." Er könnte nun das Theater nennen, Konzerte, in denen das Zusammenkommen seit jeher Teil des Erlebnisses ist. Von Gehlen verweist auf den fundamentalen Unterschied des Internets zu seinen Vorläufern: "Man liest in diesem sozialen Raum nicht mehr allein."

Ein Risiko, wie von Gehlen einräumt. Über sein Kindle E-Book-Reader bekomme etwa Amazon mehr und mehr Zugriff auf die Lesegewohnheiten seiner Kunden. "Welche Seiten mehrfach oder gar nicht gelesen werden, wie schnell und zu welchen Tageszeiten gelesen, was angestrichen oder kommentiert, ob bis zu Ende durchgelesen und an welcher Stelle die Lektüre abgebrochen wird – all das kann die Digitalmaschine dem Anbieter verraten", zitiert Dirk von Gehlen in "ENVIV" Constanze Kurz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Im Gelesen-Werden liegt auch die Gefahr der Überwachung. Schon um sich dessen bewusst zu werden, ist es an der Zeit anzuerkennen, dass die Idee, Kultur als Software zu verstehen, kein Gedankenspiel ist."

Schwarmfinanzierung

"Wie finanziere ich ein Buch, von dem noch keine Zeile geschrieben ist?" fragt Dirk von Gehlen und verweist auf "ENVIV" und das Crowdfunding: Einige hundert Menschen bezahlen nicht nur für ein Buch, sondern auch für ein Projekt, das sie sympathisch finden, für einen Prozess, dem sie beiwohnen dürfen. "Crowdfunding ist ein soziales Erlebnis. Man hat das Risiko des gemeinsamen Scheiterns, aber auch die Chance des gemeinsamen Erfolgs." Ganz neu sei das allerdings nicht, räumt er auf Nachfrage von Moderator Florian Zinnecker ein. Früher bereits gab es Subskriptionsmodelle, Maler führten hochvermögende Auftraggeber auch mal durch ihr Atelier. Und war es nicht Franz Kafka, der seinen Freunden immer mal wieder neue Abschnitte aus "Der Prozess" vorlas? (Und ab und an nicht weiterlesen konnte, weil er so lachen musste.)

Das Bio-Ei. Oder: Der Prozess gehört zum Produkt

"Qualitätsjournalismus behauptet die Qualität, weist sie aber nicht nach", sagt Dirk von Gehlen und fordert die Kollegen, also auch uns vom Nordbayerischen Kurier, zu Transparenz auf. Transparenz bedeutet die Möglichkeit etwa für Abonnenten, dem Autor quasi über die Schulter schauen zu können, Kontakt aufnehmen, teilhaben zu können. Zu manchen Zeiten zumindest. "Der Wert des Produkts liegt nicht mehr nur im Produkt selbst, sondern in seiner Entstehungsgeschichte." Von Gehlen verweist auf das Bio-Ei: Transparente Produktion, glückliche Hühner - das darf auch Geld kosten, findet er.

Die Entstehungsgeschichte gehört zum Erlebnis. Und überlagert andere Bereiche. "Publishing is not a job", zitiert er. "It's a button." Zu deutsch: Veröffentlichen ist kein Job mehr, es ist ein Schaltknopf auf der Benutzeroberfläche. Heutzutage und erst recht in der Zukunft seien Ergebnis und Erlebnis, Produkt und Prozess zusammenzudenken. Stichwort Nirvana: "Was würdet ihr dafür geben, wenn ihr dabei gewesen wärt, als Curt Cobain die ersten Töne von ,Smells like Teen Spirit' zupfte?"

Autor und Empfänger

Gibt es so nicht mehr, behauptet von Gehlen. Anders als früher spielt das Gegenüber in der digitalen Welt eine Rolle. Es kann sich einmischen, interagieren. "Es kann sein, dass eine feste Form nicht mehr der Absender formt, sondern der Rezipient." Für den echten Harry-Potter-Fan etwa gibt es die Möglichkeit, die Harry-Potter-Welt fortleben zu lassen, lange nachdem der nickelbebrillte Held das Erwachsenenalter erreicht hat. Für J.K. Rowling sei das ein gutes Geschäft, sagt von Gehlen, für die Fans ein Riesenspaß. "Pottermore" nennt sich dieses Nachleben einer Buchreihe. Es wartet mit vielen magischen Spielchen auf. Zauberei ist es aber nicht.

Den Sübkültür-Abend im Forum Phoinix zeichnete Michael Weiser auf.

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