Das letzte Glas Wein

Von Christina Holzinger
Jürgen H. ist trockener Alkoholiker. Foto: Jens Büttner/dpa Foto: red

Jürgen H. hatte alles: Ein großer Haus, ein schnelles Auto, zwei Töchter, eine liebende Ehefrau und eine gut laufende Firma. Doch in seinem Leben zählte nur der Erfolg - Angst und Zweifel betäubte er mit Alkohol. Der 54-Jährige brauchte lange, um sich einzugestehen, dass er alkoholabhängig ist. Jetzt leitet er die Gruppe der Anonymen Alkoholiker (AA) in Kulmbach und will zum heutigen Weltgesundheitstag andere Menschen für die Alkoholsucht sensibilisieren

 
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Jürgen H.s Leben nach dem Rausch begann im September vor zehn Jahren. „Ich kann heute nicht erklären, welche Macht der Alkohol über mich hatte“, sagt H. Er fand immer wieder einen Grund zu trinken. Ob aus Freude, Leid, Angst oder Wut – „Ich habe immer gesoffen“. Nach einer kurzen Nacht stand er um fünf Uhr auf, wanderte durch Wälder und über Wiesen. Er machte eine "gründliche und furchtlose Inventur" im Inneren, wie es die AA fordern. Er wollte herausfinden, wie alles so weit kommen konnte.

Der letzte große Exzess

Eigentlich hatte der Vortag gut begonnen. Der Geschäftsmann war zur Arbeit gegangen, konnte einen neuen Kunden für sich gewinnen. Auf dem Nachhauseweg wollte er sich dafür belohnen. Er machte an einer Tankstelle Halt, kaufte eine Flasche Wodka. Von Alkoholabhängigen hatte er während einer Entziehungskur gelernt, dass man Wodka im Atem weniger riecht als Bier oder Wein. Seine Frau sollte nicht mitbekommen, dass er wieder getrunken hatte. Denn dann würde es wieder Streit geben. Jürgen H. trank die Flasche in wenigen Zügen, setzte sich ins Auto und fuhr nach Hause. Seine Frau merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie schrie ihren Mann an, er stürmte aus dem Haus, fuhr mit dem Auto zurück in die Firma. Dort versteckte er sich. Vor seiner Familie, der Polizei, die seine Frau aus Sorge alarmiert hatte. Und auch vor seinen Problemen.

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Stunden später kommt Jürgen nach Hause. Zum ersten Mal in seinem Leben ist ihm klar, dass er ein Problem mit Alkohol hat. Dass er abhängig ist. „Ich wusste, dass ich irgendeine Macht brauche, die mir hilft – da bin ich zu den Anonymen Alkoholikern gegangen“, sagt er. Erst jetzt versteht er, wie sehr der Alkohol ihn verändert hatte. „Ich hatte keinen Bezug mehr zu meinen Töchtern, sondern war nur noch der Papa mit dem dicken Geldbeutel.“ Seine jüngere Tochter musste in Psychotherapie, seine Frau schloss sich einer Selbsthilfegruppe an. Den Al-Anon, den Angehörigen und Freunden von Alkoholikern. Sie kämpfte um ihre Ehe und die Familie, auch wenn es manchmal ausweglos erschien. Der 54-Jährige bewundert ihre Ausdauer. "Ich hätte mir das ein Jahr lang angeschaut, dann wäre ich weggewesen“, sagt Jürgen H. Heute hat Jürgen H. zu seiner Familie ein gutes Verhältnis. Seine Töchter fragen ihn gerne um Rat, hören sich seine Meinung an. Mit seiner Frau fährt er jedes Jahr im Wohnmobil in den Urlaub, dieses Jahr nach Portugal.

Auch heute noch ein schwieriges Thema

Im Laufe der Jahre hat er gelernt, über das Thema Alkohol zu reden. Mit jeder Sitzung der Anonymen Alkoholikern wurde er immer sicherer darin. Heute hält er Vorträge in Schulen und in der Justizvollzuganstalt, will anderen Menschen helfen. Doch wenn er über seine Alkoholsucht spricht, schaut Jürgen H. seinem Gegenüber nie direkt in die Augen, sondern am Kopf vorbei aus dem Fenster in den Garten. Auch heute fällt es ihm noch nicht leicht, über diesen Abschnitt seines Lebens zu sprechen. Doch er muss reden, denn es hilft ihm, nüchtern zu bleiben. Viel zu lange hatte er gelogen und seine Probleme verschwiegen.

Erster Rausch mit acht Jahren

Den ersten Kontakt mit Alkohol hatte der Geschäftsmann mit acht Jahren. Auf dem Grundstück seiner Eltern wurde eine Garage gebaut, Freunde und Bekannte der Familie, die beim Bau halfen, gaben dem Achtjährigen Bier zu trinken. Nach kurzer Zeit wurde ihm schwindelig, er ging zu seiner Mutter. „Meine Mutter hat mich damals nicht über Alkohol aufgeklärt, sondern mich einfach nur ins Bett geschickt“, sagt er. In seiner Familie sei Alkohol immer verniedlicht worden. Während seiner Jugend trank H. mit Freunden in Bars oder Diskotheken hin und wieder Alkohol – doch im Gegensatz zu seinen Begleitern hörte er erst auf, „wenn nichts mehr rein ging“.

Schwerer Motorradunfall

Vor 25 Jahren hatte der Geschäftsmann einen schweren Verkehrsunfall mit seinem Motorrad. Seither ist er halbseitig gelähmt. Es folgten viele Operationen, starke Schmerzmittel. Doch irgendwann konnten die Medikamente seinen Schmerz nicht mehr betäuben. Sein Hausarzt riet ihm dazu, abends vor dem Schlafengehen ein Glas Wein zu trinken. Doch aus dem Glas Wein wurden innerhalb der nächsten zehn Jahre zwischen drei und vier Flaschen Wein – pro Abend. Manchmal auch Schnaps. „Zu dem Zeitpunkt wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass der Alkohol ein Problem sein könnte“, sagt H. Obwohl er seine linke Körperhälfte nicht bewegen kann, sah er sich selbst nie als ein Mensch mit Behinderung. Dabei ist diese Behinderung – das weiß er heute – einer der Gründe, warum er trank. Und erst als er vor einigen Jahren einen Burnout hatte und an seinem absoluten Tiefpunkt ankam, wurde er sich dieser Wahrheit bewusst.  

Alkoholsucht macht vor niemandem Halt

Doch bis zu diesem Punkt vergingen Jahre. Seine Frau flehte ihn immer wieder an, weniger zu trinken. Doch Jürgen H. sah sich nicht als Alkoholiker, immerhin hatte er beruflichen Erfolg und war gebildet. „Alkoholiker waren bis dahin für mich immer die Obdachlosen, die mit einer Flasche Schnaps in der Hand auf einer Parkbank schlafen.“ Mittlerweile weiß er es besser: „Die Alkoholabhängigkeit macht vor niemanden Halt, egal was man besitzt oder geleistet hat.“  

Keine schnellen Erfolge

Der Alkohol machte aus dem fröhlichen und wortgewandten Geschäftsmann einen lauten Egoisten. Er prahlte mit seinem Erfolg, wollte sich mit seinen Geschäftskollegen messen. „Wenn ein Konkurrent fünf Mitarbeiter mehr hatte als ich, habe ich sechs neue Mitarbeiter eingestellt, nur um ihn überlegen zu sein“, sagt der 54-Jährige. Zufrieden war er damit aber nie. Er nahm immer mehr Aufträge an, obwohl seine Kapazitäten längst ausgelastet waren. Und das nur, damit der Kunde nicht zur Konkurrenz geht. Er war von Ehrgeiz getrieben, wollte sich beweisen, dass er nicht behindert ist. „Ich habe den Erfolg zwar gesehen, konnte mich aber nicht darüber freuen“, sagt er. Mit der Zeit wurde er immer kranker, brauchte blutdrucksenkende Medikamente. Für viele seiner Krankheiten fanden die Ärzte keine Erklärungen, doch für seine Frau war klar: Der Alkohol ist daran schuld. Zweimal konnte sie ihn überreden, für eine Alkoholentgiftung mit einer anschließenden Entwöhnungskur in eine Klinik zu gehen. Er entschied sich beide Male für ein Programm mit dem Titel „Alkoholentwöhnung in 21 Tagen“. Heute muss er bei der Vorstellung lachen. „Die Ärzte und Therapeuten in so einer Klinik kennen die Macht des Alkohols nicht, weil sie nie damit Probleme hatten“, sagt er. Trotz der beiden Therapien war der 54-Jährige nicht davon überzeugt, abhängig zu sein – die Entgiftungen hatte er nur seiner Frau zur Liebe gemacht. Heute weiß er: Der erste Schritt zur Nüchternheit muss von dem Betroffenen selbst kommen. Und auch, dass solche 21-Tage-Kuren nicht ausreichen, er musste danach immer weiter an sich arbeiten. „Es gibt keine Abkürzung auf dem Weg zur Nüchternheit.“

Die Sitzung, die sein Leben veränderte

Vor seiner ersten Sitzung bei den Anonymen Alkoholikern in Kulmbach hatte der Geschäftsmann große Angst. „Ich hatte wieder die Vorstellung, dass da nur ungewaschene und stinkende Menschen sitzen, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen“, sagt er. Doch das Gegenteil war er Fall: Dort saßen Ärzte, Polizisten, Pfarrer, ein Alt-Bürgermeister. Auf dem Tisch, um den die Gruppe herum saß, stand ein Schild. Darauf stand: „Was du hier siehst und wen du hier siehst, bleibt hier am Tisch.“ Jeder in der Gruppe erzählte nacheinander von seinen Alkoholproblemen. Die wichtigsten Regeln dabei: Die Gruppenmitglieder lassen einander aussprechen, machen sich keine Vorwürfe oder setzen einander unter Druck. Wenn also ein Gruppenmitglied fragte, was er tun soll, wenn er ein Alkoholverlangen hat, sagte Jürgen H. nicht „Du musst darauf verzichten“, sondern „ich an deiner Stelle würde einen Freund anrufen und darüber reden“, denn: „Ein ‚muss‘ gibt es bei den Anonymen Alkoholikern nicht.“

Eine Armlänge entfernt

Mit dieser ersten Sitzung begann sein Weg zur Trockenheit, Jahre später kann er sich selbst als nüchtern ansehen. Der Unterschied: „Trocken bin ich dann, wenn ich keinen Alkohol mehr trinke, nüchtern, wenn ich kein Verlangen nach Alkohol habe, obwohl alle um mich herum trinken.“ Heute kann er auf Feiern neben Freunden und ehemaligen Saufkumpanen sitzen ohne etwas zu trinken. Solange ein Glas mit Alkohol weiter als eine Armlänge entfernt von ihm steht.

Eine Lektion fürs Leben

Durch die zwölf Schritte, in denen das Programm der Anonymen Alkoholiker zusammengefasst sind, lernte er Demut, Zufriedenheit, Dankbarkeit und Gelassenheit. Und natürlich den Mut, um die Dinge zu ändern, die er ändern kann.  Doch auch wenn Jürgen H. nun schon seit zehn Jahren trocken ist – er plant immer nur für den Moment. „Ich weiß nicht, ob ich in einer Stunde nicht schon wieder etwas trinke“, sagt er. Die Macht des Alkohols sei immer noch sehr stark. Er erlebt immer wieder trockene Alkoholiker, die nach Jahrzehnten der Abstinenz rückfällig werden. Deswegen besucht er nach wie vor zwei Gruppen der Anonymen Alkoholiker wöchentlich, denn das reden über die Sucht hilft ihm, nüchtern zu bleiben.

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