Erster Rausch mit acht Jahren
Den ersten Kontakt mit Alkohol hatte der Geschäftsmann mit acht Jahren. Auf dem Grundstück seiner Eltern wurde eine Garage gebaut, Freunde und Bekannte der Familie, die beim Bau halfen, gaben dem Achtjährigen Bier zu trinken. Nach kurzer Zeit wurde ihm schwindelig, er ging zu seiner Mutter. „Meine Mutter hat mich damals nicht über Alkohol aufgeklärt, sondern mich einfach nur ins Bett geschickt“, sagt er. In seiner Familie sei Alkohol immer verniedlicht worden. Während seiner Jugend trank H. mit Freunden in Bars oder Diskotheken hin und wieder Alkohol – doch im Gegensatz zu seinen Begleitern hörte er erst auf, „wenn nichts mehr rein ging“.
Vor 25 Jahren hatte der Geschäftsmann einen schweren Verkehrsunfall mit seinem Motorrad. Seither ist er halbseitig gelähmt. Es folgten viele Operationen, starke Schmerzmittel. Doch irgendwann konnten die Medikamente seinen Schmerz nicht mehr betäuben. Sein Hausarzt riet ihm dazu, abends vor dem Schlafengehen ein Glas Wein zu trinken. Doch aus dem Glas Wein wurden innerhalb der nächsten zehn Jahre zwischen drei und vier Flaschen Wein – pro Abend. Manchmal auch Schnaps. „Zu dem Zeitpunkt wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass der Alkohol ein Problem sein könnte“, sagt H. Obwohl er seine linke Körperhälfte nicht bewegen kann, sah er sich selbst nie als ein Mensch mit Behinderung. Dabei ist diese Behinderung – das weiß er heute – einer der Gründe, warum er trank. Und erst als er vor einigen Jahren einen Burnout hatte und an seinem absoluten Tiefpunkt ankam, wurde er sich dieser Wahrheit bewusst.
Alkoholsucht macht vor niemandem Halt
Doch bis zu diesem Punkt vergingen Jahre. Seine Frau flehte ihn immer wieder an, weniger zu trinken. Doch Jürgen H. sah sich nicht als Alkoholiker, immerhin hatte er beruflichen Erfolg und war gebildet. „Alkoholiker waren bis dahin für mich immer die Obdachlosen, die mit einer Flasche Schnaps in der Hand auf einer Parkbank schlafen.“ Mittlerweile weiß er es besser: „Die Alkoholabhängigkeit macht vor niemanden Halt, egal was man besitzt oder geleistet hat.“
Keine schnellen Erfolge
Der Alkohol machte aus dem fröhlichen und wortgewandten Geschäftsmann einen lauten Egoisten. Er prahlte mit seinem Erfolg, wollte sich mit seinen Geschäftskollegen messen. „Wenn ein Konkurrent fünf Mitarbeiter mehr hatte als ich, habe ich sechs neue Mitarbeiter eingestellt, nur um ihn überlegen zu sein“, sagt der 54-Jährige. Zufrieden war er damit aber nie. Er nahm immer mehr Aufträge an, obwohl seine Kapazitäten längst ausgelastet waren. Und das nur, damit der Kunde nicht zur Konkurrenz geht. Er war von Ehrgeiz getrieben, wollte sich beweisen, dass er nicht behindert ist. „Ich habe den Erfolg zwar gesehen, konnte mich aber nicht darüber freuen“, sagt er. Mit der Zeit wurde er immer kranker, brauchte blutdrucksenkende Medikamente. Für viele seiner Krankheiten fanden die Ärzte keine Erklärungen, doch für seine Frau war klar: Der Alkohol ist daran schuld. Zweimal konnte sie ihn überreden, für eine Alkoholentgiftung mit einer anschließenden Entwöhnungskur in eine Klinik zu gehen. Er entschied sich beide Male für ein Programm mit dem Titel „Alkoholentwöhnung in 21 Tagen“. Heute muss er bei der Vorstellung lachen. „Die Ärzte und Therapeuten in so einer Klinik kennen die Macht des Alkohols nicht, weil sie nie damit Probleme hatten“, sagt er. Trotz der beiden Therapien war der 54-Jährige nicht davon überzeugt, abhängig zu sein – die Entgiftungen hatte er nur seiner Frau zur Liebe gemacht. Heute weiß er: Der erste Schritt zur Nüchternheit muss von dem Betroffenen selbst kommen. Und auch, dass solche 21-Tage-Kuren nicht ausreichen, er musste danach immer weiter an sich arbeiten. „Es gibt keine Abkürzung auf dem Weg zur Nüchternheit.“
Die Sitzung, die sein Leben veränderte
Vor seiner ersten Sitzung bei den Anonymen Alkoholikern in Kulmbach hatte der Geschäftsmann große Angst. „Ich hatte wieder die Vorstellung, dass da nur ungewaschene und stinkende Menschen sitzen, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen“, sagt er. Doch das Gegenteil war er Fall: Dort saßen Ärzte, Polizisten, Pfarrer, ein Alt-Bürgermeister. Auf dem Tisch, um den die Gruppe herum saß, stand ein Schild. Darauf stand: „Was du hier siehst und wen du hier siehst, bleibt hier am Tisch.“ Jeder in der Gruppe erzählte nacheinander von seinen Alkoholproblemen. Die wichtigsten Regeln dabei: Die Gruppenmitglieder lassen einander aussprechen, machen sich keine Vorwürfe oder setzen einander unter Druck. Wenn also ein Gruppenmitglied fragte, was er tun soll, wenn er ein Alkoholverlangen hat, sagte Jürgen H. nicht „Du musst darauf verzichten“, sondern „ich an deiner Stelle würde einen Freund anrufen und darüber reden“, denn: „Ein ‚muss‘ gibt es bei den Anonymen Alkoholikern nicht.“
Eine Armlänge entfernt
Mit dieser ersten Sitzung begann sein Weg zur Trockenheit, Jahre später kann er sich selbst als nüchtern ansehen. Der Unterschied: „Trocken bin ich dann, wenn ich keinen Alkohol mehr trinke, nüchtern, wenn ich kein Verlangen nach Alkohol habe, obwohl alle um mich herum trinken.“ Heute kann er auf Feiern neben Freunden und ehemaligen Saufkumpanen sitzen ohne etwas zu trinken. Solange ein Glas mit Alkohol weiter als eine Armlänge entfernt von ihm steht.
Eine Lektion fürs Leben
Durch die zwölf Schritte, in denen das Programm der Anonymen Alkoholiker zusammengefasst sind, lernte er Demut, Zufriedenheit, Dankbarkeit und Gelassenheit. Und natürlich den Mut, um die Dinge zu ändern, die er ändern kann. Doch auch wenn Jürgen H. nun schon seit zehn Jahren trocken ist – er plant immer nur für den Moment. „Ich weiß nicht, ob ich in einer Stunde nicht schon wieder etwas trinke“, sagt er. Die Macht des Alkohols sei immer noch sehr stark. Er erlebt immer wieder trockene Alkoholiker, die nach Jahrzehnten der Abstinenz rückfällig werden. Deswegen besucht er nach wie vor zwei Gruppen der Anonymen Alkoholiker wöchentlich, denn das reden über die Sucht hilft ihm, nüchtern zu bleiben.