Das Geheimnis der verschwundenen Orte

Von Michael Weiser
Die Heimat im Kopf, die Hoffnung auf Rückkehr im Herzen: Vertriebene aus dem Sudetenland. Foto: dpa Foto: red

Der Krieg veränderte Osteuropa, tilgte Orte von der Landkarte. Das Zerstörungswerk setzte sich nach dem Krieg fort, wie eine Ausstellung im Lastenausgleichsarchiv zeigt. Man wollte Spuren der Deutschen tilgen und der Planwirtschaft den Weg ebnen. Manchmal fehlte es auch einfach an Geld, um Bauten zu retten. Wie die Heimat vieler Deutscher endgültig unterging.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Der Besuch war von Bedenken überschattet. „Nun war ich also nur eine halbe Stunde von diesem Ort entfernt“, notierte 1962 Marion Gräfin von Dönhoff. „Sollte ich ihn besuchen oder lieber so im Herzen bewahren, wie er für mich zum Inbegriff von Heimat geworden war? Ich schwankte…“ Die spätere "Zeit"-Herausgeberin beschrieb mit diesen Worten, wie sie sich Schloss Friedrichstein näherte, wo sie 1909 geboren worden war.

Schloss in Flammen

Das Schloss war 1945 in Flammen aufgegangen, eine Geschichte, wie sie sich hundert- und tausendfach wiederholte. Der Weltkrieg erreichte das Land, von dem er ausgegangen war, zerstampfte Dörfer und Städte, zertrümmerte Grenzen, zwang Millionen zur Flucht. Von zwölf Millionen Deutschen und Angehörigen deutschsprachiger Minderheiten aus dem Osten des Reichs gelangten zwei Millionen nach Bayern: Menschen, die sich eine Existenz aufbauen mussten, im Besitz meist spärlicher Habseligkeiten. Und ihrer Erinnerungen.

Viele Gründe fürs Auslöschen

An verlorene Heimat erinnert derzeit eine Ausstellung im Lastenausgleichsarchiv in Bayreuth. Sie konzentriert sich auf einen besonderen Aspekt: die Vertreibung ohne Möglichkeit der Wiederkehr. „Verschwunden. Orte, die es nicht mehr gibt“ heißt die Präsentation. Sie zeigt auf Schautafeln, wie reich die Kulturlandschaft war, die einst weite Teile Osteuropas prägte. Und sie zeigt, wie sie unterging: durch Zerstörung in Luftangriffen und Artilleriebombardements; gezielt gesprengt, um die Erinnerung an die preußische Geschichte zu tilgen; von der Planwirtschaft geschluckt und in Stauseen versenkt; durch Entvölkerung und städtebauliche Konzepte, die Altes nur zu gern abtaten.

„Man denkt vor allem an die Zerstörungen durch den Krieg“, sagt Karsten Kühnel, stellvertretender Leiter des Archivs; tatsächlich sei Bausubstanz nach dem Krieg nicht weniger konsequent als während der Kampfhandlungen zerstört worden. Auch im Verlauf des Kalten Krieges: Ortschaften wurden ausgelöscht, um für den Fall der Fälle den Armeen Aufmarschraum zu geben. Oder um illegale Grenzübertritte zu erschweren. Wenige Kilometer von Bayreuth entfernt verlief der Eiserne Vorhang, dessen Saum die Grundmauern zerstörter sudetendeutscher Orte bildeten.

Virtuelle Auferstehung

Die Ausstellung klagt nicht an, sie glorifiziert nicht, sie bemüht sich um Sachlichkeit in einem emotionsgeladenen Thema. „Sie erinnert an den Verlust, akzeptiert die Gegenwart und ist auf die Zukunft hin ausgerichtet“, sagt Kühnel. Die Zukunft könnte sich in architektonisch anspruchsvollen Rekonstruktionsprojekten wie dem Königsberger Schloss zeigen. Computertechnik macht es in anderen Fällen möglich, zerstörte Gebäude virtuell auferstehen zu lassen.

Für die Gräfin von Dönhoff endete der Besuch ernüchternd. Das Schloss war niedergebrannt, und die Ruinen hatten die Sowjets vom Erdboden getilgt. „Nichts ist davon geblieben, nicht einmal ein Trümmerhaufen.“ So wie ihr erging es vielen, die in diesem Moment der Erkenntnis ihre Heimat ein zweites Mal und diesmal endgültig verloren. Nicht wenige Vertriebene verzichteten auf ein Wiedersehen und hielten sich an Jean Pauls Erkenntnis. „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“, hatte der geschrieben.

INFO: Im öffentlichen Bereich des Lastenausgleichsarchiv an der Dr. Franz-Straße 1 in Bayreuth bis 17. Mai, Montag bis Donnerstag 8 bis 17 Uhr, diesen Freitag 8 bis 15 Uhr.

Bilder