In einer anderen besuchten Inszenierung, den legendären „Meistersingern“ von Neuenfels in Stuttgart, war wiederum das Pathetische so ausgetrieben und das brachial Deutschtümelnde des Stoffes so unerbittlich offengelegt, dass die Musik plötzlich eine tatsächlich echt anrührende Unschuld bekam.
Vielleicht hier also doch…ein Weg?
Ein Akt der Anmaßung
Mein Freund Helmut Krausser (übrigens auch ein Wagnerianer) sprach einmal davon, dass der Wille bei Künstlern viel wichtiger sei als das eigentliche Talent, eine These, die sich in Wagner auf vortrefflichste Weise manifestiert. Erst ein paar üble Klaviersonaten, dann sich langsam unerbittlich mit eiserner Selbstdisziplin zu großartiger Musik zwingend, ist es das?
Oder ist es Wagners Errichtung eines Bayreuth’schen Tempels, der zur Zelebrierung der eigenen Musik auf alle Ewigkeit gedacht war, ein Akt unglaublicher Anmaßung und Eitelkeit?
Nein, je länger ich darüber nachdenke, weiß ich, was mich wirklich stört: Es ist die Tatsache, dass mich Wagners Musik zum Abschalten meines Ichs verleiten will. Seine Musik will den Rausch, die Ekstase, das langanhaltende Schmachten. Sie will mich verführen, sie will, dass ich mich ihr willenlos hingebe, auf einer Chaiselongue ausgestreckt, mit riesigen Kopfhörern, überwältigt von ihrer grenzenlosen Großartigkeit. Nun gibt es aber nichts Abregenderes als einen Verführer, der so unglaublich offen zeigt, dass er mich verführen will.
Schluss damit?
Daher verschließe ich mich vor diesem grell geschminkten Greis Wagner, mit seinen Blähungen und seinen rosa Höschen und seinen grauenhaften philosophischen Ansichten, der seine akustischen Dienste so grell anprangert wie eine verzweifelte Dirne, mich auf und ab hüpfend am Schlafittchen packt, um mich in seinen düster wallenden Kosmos des Horrors hinabzuziehen.
Also Schluss damit – nie wieder Wagner.
Ich schließe die Augen und schalte mein Ich wieder ein. Ich stelle mir vor, wie ich ins allerfernste Sibirien reise, wo der „Ring“ in einem heruntergekommen kleinen Stadttheater am Rande der Eiswüste dargeboten wird, von einem kleinen Kammerorchester mit unsäglich schlechten Sängern, die ihre Partien nur halb beherrschen. Kaum Bühnenbild, nur ein paar abgeblätterte Staffagen. Die Beleuchtung ist ausgefallen, der Regisseur liegt besoffen auf der Toilette der Kantine. Natürlich singt man auf Russisch, nicht auf Deutsch.
Ich setze mich in den Zuschauerraum (ich bin fast der einzige Zuhörer), das Schlimmste befürchtend, und lausche. Und es passiert etwas Seltsames. Von all dem entsetzlichen Ballast befreit, von all dem Pathos, all der Geschichte: Zum ersten Mal frei entfalten kann sie sich, die Wagner’sche Musik.
Und ist plötzlich doch – trotz allem…wunderschön.
INFO: Dieser Text erschien zuerst im Klassik-Magazin „Crescendo“, für das Moritz Eggert (49) regelmäßig als Kolumnist schreibt. Eggert, Mitbegründer des aDevantgarde-Festivals für neue Musik junger Komponisten und Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, komponierte unter anderem die Musik für die Eröffnungsfeier der Fußball-WM 2006. Eggert schreibt auch für den „Bad Blog of Musick".