Critical Mass: Wir sind Straßenverkehr

Von Moritz Kircher

Sie wollen auf die Belange der Radfahrer in Bayreuth aufmerksam machen. Und bei der Ausfahrt "Critical Mass" machen sich regelmäßig einige Dutzend Radler in Bayreuth eine Besonderheit der deutschen Straßenverkehrsordnung zu eigen. Fahren mindestens 16 Radfahrer in einem Verbund, dürfen sie als Kolonne eine Fahrspur für sich beanspruchen. An jedem letzten Freitag im Monat radelt so ein bunter Tross durch Bayreuth - und macht dabei auch immer wieder frustrierende Erfahrungen mit Autofahrern, die glauben, die Straße gehöre ihnen alleine.

 
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Eine gut 100 Meter lange Schlange von Radfahrern rollt stadteinwärts durch die Nürnberger Straße. Zwei Autofahrern, die hinterher fahren müssen, wird das zu viel. In der leicht nach links biegenden Straße geben sie Gas und ziehen mit hoher Geschwindigkeit an den Radfahrern vorbei. Mehrere Sekunden dauert ihr Überholmanöver. Gegenverkehr? Egal. Autos, die plötzlich aus einer der zahlreichen Einfahrten einbiegen könnten? Egal. Die Radfahrer, die bei einem Unfall in Mitleidenschaft gezogen werden können? Egal. Das riskante und wohl auch verkehrswidrige Manöver bleibt an diesem Tag die einzige echt negative Erfahrung bei der Fahrradausfahrt „Critical Mass“.

Sonderregeln in der Straßenverkehrsordnung

Mehr als 60 Radfahrer haben sich am vergangenen Freitag an der Ausfahrt beteiligt. Noch nie waren so viele da, berichten einige Teilnehmer, die regelmäßig dabei sind. Jeden letzten Freitag im Monat treffen sie sich um 18 Uhr am Sternplatz und radeln los. Der Weg ist das Ziel. Eineinhalb Stunden kreuz und quer durch die Innenstadt. Am 24. April 2015 sind die Kämpfer für die Rechte der Radfahrer im Straßenverkehr erstmals in Bayreuth gemeinsam unterwegs gewesen. Nun also feierte die „Critical Mass“ ihr dreijähriges Jubiläum.

Aber Critical … was? „Critical Mass“ – das bedeutet ins Deutsche übersetzt kritische Masse. Was das mit dem Gruppenradeln zu tun hat, erklärt Christian Zeller: „Ab 16 Teilnehmern dürfen Radfahrer einen Verband bilden.“ Die Zahl 16 – das ist also die kritische Masse. Und für diesen Verband sieht die Straßenverkehrsordnung in Paragraf 27 besondere Verkehrsregeln vor.

Youtube-Video von der Ausfahrt

Diese Regeln machen sich die Radfahrer zunutze. Einerseits, um einfach gemeinsam radeln zu gehen. Die „Critical Mass“ ist auch immer ein Wiedersehen derer, die ständig dabei sind. Doch dieses Mal waren es so viele wie noch nie in Bayreuth. Mehr als 60 Teilnehmer zählt Stefan Steurer. Der Vorsitzende des Radfahrerclubs ADFC Bayreuth ist direkt von der Arbeit gerade noch rechtzeitig zum Start gekommen und pedaliert in seiner Bürokleidung mit.

Los geht’s vom Sternplatz vorbei am Markgräflichen Opernhaus. Wo genau es lang geht, weiß noch keiner. Jeder darf vorne fahren. Und wer gerade vorne fährt, bestimmt wo es lang geht. Das ist ein Prinzip der „Critical Mass“. Denn die Ausfahrt organisiert sich selbst. Niemand macht Ansagen, niemand legt die komplette Route fest. Es gibt keinen Veranstalter. Nur ein paar alte Hasen, die immer dabei sind.

Ein radpolitisches Statement

So wie Florian. „Ich habe das beim ersten Mal durch Zufall mitbekommen“, erzählt er. Heute nimmt er seine Stieftochter mit. Für Florian ist die „Critical Mass“ auch eine Gelegenheit, auf die Belange der Radfahrer in Bayreuth aufmerksam zu machen. Früher hat er lange Ausflüge gemacht. Heute, so sagt er, ist er vor allem auf dem Weg zur Arbeit mit dem Rad unterwegs. „Die Infrastruktur für Radfahrer wird besser“, sagt er. „Die Stadt bemüht sich.“

Aber an vielen Stellen, an denen Radwege im Nichts endeten und die Verkehrsführung für Radfahrer unklar sei, gebe es noch Verbesserungsbedarf. Die Ausfahrt ist nicht nur ein Treffen von Radlern, sondern auch ein politisches Statement.

Hier geht's zur Facebookseite von "Critical Mass" Bayreuth

Nun fährt die Gruppe auf den Ring zu. An der Ampelkreuzung rollen die ersten 20 Fahrer noch über grün. Dann schaltet die Ampel um. Gelb – der Tross rollt gemütlich weiter. Rot – der Tross roll gemütlich weiter. Die Autos müssen warten. Das ist wohl die wichtigste Sonderregel aus der Straßenverkehrsordnung. Wenn der erste Fahrer der Gruppe eine Ampel bei grün passiert, dürfen alle anderen noch folgen – auch wenn die Ampel zwischenzeitlich umschaltet. Der Verband gilt quasi als ein Fahrzeug.

„Das wissen nur die meisten Autofahrer nicht“, sagt Stefan Steurer. Er habe bei der „Critical Mass“ schon vieles erlebt. Lautstarkes Dauerhupen der ausgebremsten Autofahrer sei noch das geringste. Es gebe Autofahrer, die sich dann einfach ohne Rücksicht auf Verluste in die Gruppe rein drängten.

Erfahrene Teilnehmer übernehmen Verantwortung

Deshalb hat sich bei den „Critical Mass“-Ausfahrten, die es überall in Deutschland gibt, ein Brauch herausgebildet, mit dem sich die Gruppe selbst schützt. Fährt der Tross über eine Kreuzung, stellt sich ein Fahrradfahrer quer zur Fahrbahn der einbiegenden Autos. Korken nennen das die Radfahrer – der einzige Fachbegriff, denn ein Mitfahrer bei der „Critical Mass“ kennen sollte. Meist machen das die etwas erfahreneren Teilnehmer. Heute steht Florian oft an den Kreuzungen. Mit seinem Lastenanhänger am Rad ist er kaum zu übersehen.

Bei einer „Critical Mass“ ist alles dabei: Jung und alt, Mountainbiker und solche mit altem City-Damenrad und breit gefedertem Selle-Royal-Sattel, Renn- und Lastenradfahrer. Nur die Liegeradfahrer haben diesmal gefehlt. Ein Stück über den Ring führt die bunte Tour dieses Mal durch die Erlanger Straße stadtauswärts.

Auch Sympathiebekundungen der Autofahrer

Eine weitere Sonderregel für den Fahrradverband: Man darf nebeneinander fahren und eine ganze Fahrbahn einnehmen. Auf der zweispurigen Erlanger Straße kein Problem. Ein Auto überholt und hupt mehrmals. An den Gesten des Fahrers ist aber erkennbar, dass es eine Sympathiebekundung ist. Die Bayreuther Autofahrer reagieren größtenteils entspannt auf die vermeintliche Verkehrsbehinderung durch die Radler. Für Christian Zeller sind Radfahrer kein Hindernis im Straßenverkehr. Er bringt auf den Punkt, was die „Critical Mass“ ausdrücken soll: „Wir sind auch Straßenverkehr.“

Die zufällig gewählte Runde führt durch die Erlanger, die Justus-Liebig- und die die Ludwig-Thoma-Straße zurück in die Innenstadt. Dann geht es vor der Rückkehr an den Sternplatz nochmal in Richtung Bahnhof. Der Fernbusfahrer, der mehrere hundert Meter hinter der Gruppe her zuckeln muss, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er lässt alle Radfahrer in aller Seelenruhe vor sich abbiegen.

„Wir haben schon Schlimmeres erlebt“

Aber am Bahnhof wird es noch einmal brenzlig. Ein Autofahrer entscheidet sich, die Schlange durch die Bushaltestelle am Bahnhofsvorplatz hindurch zu überholen. Mit hoher Geschwindigkeit zieht er an der Schlange und an einzelnen Fußgängern vorbei, um knapp vor dem ersten Radfahrer wieder von rechts einzuscheren. Ungläubiges Kopfschütteln bei den Radfahrern. „Wir haben schon Schlimmeres erlebt“, sagt einer.

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