Co-Parenting: Eltern aber kein Paar

Christine Wagner und Gianni Bettucci mit Tochter Milla. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter, sind aber kein Paar und waren auch nie eines. Foto: Kay Nietfeld/dpa Foto: red

Familie - was ist das heute eigentlich? Eltern, Kinder und andere Verwandte leben in vielen bunten Konstellationen zusammen. Der Markt der Möglichkeiten wächst weiter: Ein Besuch bei zwei Menschen, die zusammen immer nur Eltern, nie ein Paar sein wollten.

 
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Wenn Milla später einmal von ihren Eltern erzählen wird, könnte das so klingen: «Sie haben sich im Internet kennengelernt. Ein Liebespaar waren sie nie. Aber sie sind gute Freunde.» Millas Mutter Christine Wagner und ihr Vater Gianni Bettucci haben sich nur aus einem Grund zusammengetan: Beide wollten ein Kind. Und zwar eines, das von Mutter und Vater zusammen erzogen wird. Eben Milla. Sie ist jetzt zweieinhalb.

Das Familienmodell, in dem sie aufwächst, heißt Co-Parenting. Der englische Begriff steht für: gemeinsam Eltern sein. Das klingt nicht revolutionär. Vielmehr nach dem bekannten Mutter-Vater-Kind-Modell. Doch der Name Co-Parenting wird benutzt für Ex-Ehepartner, die trotz Liebes-Aus ihren Nachwuchs als Team betreuen. Und vermehrt auch für Eltern, die nie ein Paar waren - wie bei Milla. «Wir probieren etwas Neues», stellt Theatermanager Gianni Bettucci klar. Auch wenn das im Alltag nicht gleich ins Auge springt.

Übers Internet kennengelernt

Auf dem Klavier in Christine Wagners Wohnung in Berlin-Neukölln stehen Noten für Kinderlieder. Im Regal reihen sich Elternratgeber wie Remo Largos «Babyjahre» und Kinderbuch-Klassiker wie die «Raupe Nimmersatt» aneinander. Die Fenster sind geschmückt mit bunten Herbstblättern, die Milla gesammelt hat. Abwechselnd sitzt die Kleine auf Mamas oder Papas Schoß. Die zierliche, 33-jährige Mutter und der schlanke Italiener würden als Paar bestens durchgehen.

Der Vater wohnt aber nicht dort, sondern fünf Minuten entfernt. Er kommt häufig vorbei. Alle drei lesen, spielen und knuddeln. Regelmäßig wechselt die Tochter auch ihr Zuhause und wohnt bei ihm.

Ärztin Christine Wagner lernte Millas Vater über das Internetportal Familyship.org kennen. Sie selbst hatte es vor vier Jahren mit ihrer damaligen Partnerin gegründet, aus eigenem Interesse. Sie suchte einen Mann, um ein Baby zu bekommen und großzuziehen. Als gute Freunde, nicht als Liebespaar.

Immer mehr Heteros entdecken Co-Parenting für sich

Anfangs eher für Lesben und Schwule wie Wagner und Bettucci gestartet, entdecken verstärkt auch Heterosexuelle solche Co-Parenting-Börsen. Als «eine Option, sich den Kinderwunsch zu erfüllen», sagt die Chirurgin. Unter den aktuell rund 1500 angemeldeten Frauen und Männern seien etwa 40 Prozent heterosexuell.

Ein Blick in die USA zeigt: Dort gingen in den vergangenen Jahren mehrere solche Internet-Vermittler an den Start. Vieles dreht sich ums Bieten und Suchen von Samenspenden. Aber auch ums Finden von Co-Eltern. In Großbritannien sind diese Kontaktseiten ebenfalls angesagt.

Für Trendforscher Ulrich Reinhardt passen Design-Familien ohne Sex und Romantik zu größeren Veränderungen: zu einem Individualismus, bei dem der Freiheitsdrang die Partnerschaft dominiert. «Viele Frauen wollen sich den Kinderwunsch auf alle Fälle erfüllen. Der Wunsch steht dann über anderen Erwägungen wie Liebe», sagt er. «Das betrifft nach meiner Einschätzung eher gut ausgebildete oder etwas ältere Frauen, die auf solche Angebote zurückgreifen»

Bei Männern sieht er die Motivlage etwas anders: «Es sind eher diejenigen, die bei der Beziehung schon in die zweite Runde gehen, wo vielleicht schon ein Kind da ist. Und die sich noch einmal fortpflanzen möchten», erläutert der Experte von der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg.

Kein Kinderspiel

Auch die spätere Familiengründung fördert neue Muster. Vor 20 Jahren waren Mütter in Deutschland bei der Geburt im Schnitt knapp 29 Jahre alt. Inzwischen sind sie bald 31. Ausbildung und Beruf gehen oft vor. Und wer mit Ende 30, Anfang 40 noch keinen Partner hat, ist nicht mehr so offen. «Genau für diese Menschen sind solche ‎Portale eine letzte Ausfahrt zur Familie», meint der Leipziger Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky.

Ist Familie gründen im Netz tatsächlich so einfach? Eigenes Internetprofil anlegen, Erziehungspartner suchen, Kontakt aufnehmen, Kennenlernen? Nicht ganz.

"Nicht nur Samenspender sein"

Der Italiener Bettucci, der in Berlin lebt, gehörte zu den ersten Nutzern der Familyship-Plattform. Er schrieb mehrere Frauen an. Auch die Gründerin. Beim ersten Date mit ihr, das beide als «pragmatisch» in Erinnerung haben, spürten sie: Die Chemie stimmt. Entscheidend seien aber die folgenden Monate gewesen. «Ich wollte, dass wir uns erst ein Jahr lang kennenlernen», sagt der 42-Jährige. «Ich wollte nicht auf die Funktion eines Samenspenders reduziert werden.»

Die zwei machten Spaziergänge und Ausflüge. Sie trafen sich mit Freunden, kochten, sprachen über sich, ihre Vorstellungen von Erziehung. Erst dann hätten sie sich für ein Kind entschieden, erzählt die 33-Jährige, während sie mit Milla auf dem Teppich Kugeln durch eine Bahn rollen lässt.

Noch einmal drei Monate dauerte es, bis Wagner ohne Sex mit der sogenannten Bechermethode schwanger wurde. Dabei spritzt der Mann seinen Samen in ein Gefäß. Die Frau führt sich die Spermien - etwa mit einer Einwegspritze - in die Gebärmutter ein.

Geteiltes Sorgerecht

Die Absprachen der Kennenlernphase helfen bis heute, wenn es um Rechte und Geld geht: «In Millas Geburtsurkunde stehen wir beide, wir teilen uns das Sorgerecht», sagt die Mutter. Einen Vertrag, wie ihn manche aufsetzen, hätten die Co-Eltern nicht. Größere Anschaffungen würden geteilt. «Ansonsten kauft der eine die Schuhe, der andere die Jacke», berichtet Wagner. «Wir haben ein gemeinsames Konto, da kommt das Kindergeld drauf. Und wir zahlen zu gleichen Anteilen je etwas monatlich ein, und davon wird dann die Tagesmutter bezahlt, beispielsweise.»

So viel Vorlauf wie Millas Eltern hat die 40-jährige Katja nicht. Ihren wahren Namen möchte sie in den Medien nicht lesen. Sie wünsche sich seit Jahren ein Kind, sagt sie. Doch: «Entweder die Beziehung passte nicht, oder der Mann wollte nicht.» Jetzt hat sie im Internet einen Schwulen als erziehungswilligen Vater gefunden. Der sei ihr sogar lieber als ein Heterosexueller, in den sie sich vielleicht unglücklich verlieben könnte.

"Seit ich 40 bin, machen die Ärzte Druck"

In der Vergangenheit hatte die Berlinerin viel Zeit in ihre Ausbildung als Schauspielerin gesteckt. Jetzt muss sie sich beeilen. «Die Hormone geben den Takt vor. Seitdem ich 40 bin, machen die Ärzte Druck.» Nach einigen Monaten des Kennenlernens wollen sie und ihr Freund, der bereits ein Kind mit einer anderen Frau hat, loslegen. «Gern hätte ich mehr Zeit gehabt», sagt sie. Medizinisch setzt sie auf Profis. Sie will sich im Kinderwunschzentrum bei einer künstlichen Befruchtung helfen lassen. Parallel zum Baby-Projekt sucht sie weiter einen Mann für eine Liebesbeziehung. Jetzt, wo die Last der Kinderfrage weg sei, gehe das leichter.

Katja und andere erweitern mit ihren Lebensentwürfen eine ohnehin bunte Familienlandschaft. Neben der klassischen Kleinfamilie - mit und ohne Trauschein - gibt es viele Alleinerziehende. In zwei von zehn Familien sind Mama oder Papa in Deutschland alleine für die Kinder da. Dazu kommen die lesbischen und schwulen Eltern mit ihren Regenbogenfamilien. Plus mitunter wild zusammengewürfelte Patchwork-Konstellationen nach mehreren Ehen, mit Stiefeltern und Halbgeschwistern.

Der Markt der Möglichkeiten ist groß, und er wächst rasant weiter. Das jedenfalls meint der Autor Jochen König (34). Über seine Erfahrungen mit dem Co-Parenting hat er ein Buch geschrieben («Mama, Papa, Kind? Von Singles, Co-Eltern und anderen Familien»). König bekam seine erste Tochter Fritzi mit Ende 20. Er und Fritzis Mutter waren ein Paar, wohnten aber getrennt. «Wir hatten keine Lust auf eine klassische Rollenaufteilung», berichtet er. König übernahm den Großteil der Erziehung.

Schadet diese Familienform dem Kind?

Dann ging die Liebe in die Brüche. «An dem freundschaftlichen Verhältnis arbeiten wir noch», schreibt er im Buch. Unterdessen keimte bei König der Wunsch nach einem Geschwisterkind. Er erzählte Bekannten davon - und stieß auf Marie, die lesbisch ist und mit einer Partnerin lebt.

Als Freunde und Co-Eltern bekamen er und Marie Ende 2014 Lynn. Wie ihre Schwester pendelt die Kleine zwischen den Eltern-Haushalten. Anfangs war sie mehr bei der Mutter. Ziemlich kompliziert das Ganze. Manchmal stöhnt sogar König. Um dann zu sagen: «Ich habe eine grandiose Familie.»

Grandios für die Eltern. Doch was bedeutet Co-Parenting für die Kinder? Schadet es der Entwicklung? Wie so oft in Familienfragen sorgen alternative Konzepte für emotionale, manchmal ideologische Debatten. In Blogs ist wegen der zwei Haushalte von Ping-Pong-Kindern die Rede. Oder von selbstsüchtigen Eltern und Ego-Familien.

«Es geht hier nur um die Bedürfnisse von Erwachsenen, sich selbst den Kinderwunsch zu erfüllen und nicht darum, einem Kind ein Zuhause zu geben», sagt Autorin Birgit Kelle («Gendergaga»). Die streitbare Konservative macht sich mit dem Verein Frau 2000plus für traditionelle Familien stark. Die neuen Varianten hält sie für «hochgradig problematisch».

Kinder, die zwischen mehreren Wohnungen pendeln

«Wer Kinder wie Verschiebeware zeugt und in neu erdachte Familienformen versetzt, handelt in meinen Augen egoistisch, auch wenn ich diesen Eltern nicht absprechen, dass sie dies Kind sicher lieben und gut versorgen», meint Kelle. Familie, Abstammung, Elternschaft seien keine sozialen Konstruktionen, die man beliebig neu mischen könne wie ein Kartenspiel.

Die Wiener Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert vertritt eine andere Position: Für Kinder sei es entscheidend, dass sie von feinfühligen Menschen erzogen würden. «Sie brauchen warme, ihnen zugewandte Personen, die die Fähigkeit entwickeln, sich in die Kinder hineinzuversetzen und deren Bedürfnislagen zu erkennen», betont sie. Ob zwischen Mutter und Vater Liebe oder Freundschaft herrsche, sei eher zweitrangig.

Auch das Pendeln zwischen Wohnungen muss nicht nachteilig sein, wie Studien über Scheidungskinder zeigen. Vieles hängt vom Einzelfall ab, wie groß die Konflikte sind, wie jeder mit jedem umgeht. Manche Mädchen und Jungen empfinden das Leben mit zwei Betten, zwei Zahnbürsten und zwei Spielesammlungen nach einer Trennung als Belastung. Andere profitieren von engen Bindungen zu beiden Eltern.

Künftig in einer Wohnung

Die Berliner Co-Mutter Wagner fühlte sich bei ihrer Tochter anfangs selbst an ein Scheidungskind erinnert. Doch Milla habe sich gut an die zwei Lebensorte gewöhnt. Außerdem möchte Vater Bettucci in die Nachbarwohnung ziehen. Es soll einen Wanddurchbruch geben.

«Familie ist da, wo Kinder sind», sagt Wagner und reicht Milla geduldig Brezeln. «Ich glaube, dass sich das traditionelle Bild nicht auflöst, sondern es künftig vielleicht ein erweitertes Bild von Familie gibt.» Ein neues, bunteres Leitbild.

Vereine von Trennungsvätern und diverse Familienverbände fordern das schon lange. Häufig geht es darum, beide Eltern stärker gleichzustellen. Und um mehr Raum für neue Rollenmuster. So zum Beispiel beim Verband berufstätiger Mütter. «Frauen brauchen mehr Raum für Beruf und Karriereoptionen, Männer mehr Zeit für die Familie», sagt Vorstandschefin Cornelia Spachtholz. Sie spricht aus Erfahrung.

Die 48-Jährige ist geschieden. Um den Sohn kümmern sich die Eltern seit Jahren trotz zwei Wohnungen als Team. Er ist jetzt 17. Gerade zieht die Beraterin und Unternehmensentwicklerin «näher an den Papa und die Ex-Schwiegermutter», erzählt sie. «Wir leben Familie, aber wir sind kein Paar mehr.» Also eine Kombination aus alt und neu.

Ein schnelles Aussterben der herkömmlichen Familie erwarten auch Forscher nicht. «Das traditionelle Familienbild ist nicht aus der Mode gekommen», stellt Soziologin Claudia Zerle-Elsäßer vom Deutschen Jugendinstitut in München fest. Die große Mehrheit der Kinder wachse weiter mit Mutter und Vater auf. Auch wenn bei älteren Kindern die Zahl der Trennungs- und Patchworkfamilien steige.

Großeltern anfangs nicht begeistert

Das Gewicht der Tradition spüren selbst die Co-Eltern Bettucci und Wagner. Als die Großeltern in Italien und in Norddeutschland von der Schwangerschaft erfuhren, gab es viel Skepsis. «Sie hätten lieber in Kauf genommen, nie Großeltern zu werden, als in unserer Konstellation», erzählt Christine Wagner über ihre Eltern. Gianni Bettuccis Vater war begeistert, seine Mutter nicht.

Inzwischen turnt Milla im Blümchenkleid durch die Wohnung. Die Freude hat gewonnen. Bettuccis Mutter strickt Pullover für die Enkelin. Der deutsche Schwiegervater lernt Italienisch, um mit den Verwandten reden zu können. Weihnachten feiern die Familien zusammen, ganz klassisch. Wie Bettucci das findet? «Das ist mir fast schon ein bisschen zu viel.»

dpa

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