Verteidiger rechnen: Die Blutwerte einer der betäubten Patientinnen müssen falsch sein Chefarzt-Prozess: Erneute Chance auf Freiheit

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Foto: Otto Lapp Foto: red

Neue Wendung im Bamberger Chefarzt-Prozess: Die Anwälte des 48-Jährigen, der zwölf Patientinnen betäubt und sich dann an ihnen vergangen haben soll, haben die Blutwerte der Hauptzeugin nachgerechnet. Ergebnis: Dr. W. könne die junge Frau gar nicht betäubt haben. Er müsse sofort aus der Haft entlassen werden. Woher die falschen Werte stammen, ob aus einem Komplott gegen den Arzt oder wegen eines Fehlers, bleibt offen.

 
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Es ist ein neuer Schuss gegen die Ermittler, denen W. und seine Verteidiger grobe Nachlässigkeiten vorwerfen. Dieses Mal haben sie sich die Werte des Beruhigungsmittels vorgenommen und nachgerechnet. Romana S. (28), eine ehemalige Studentin des Chefarztes, gab an, sie sei betäubt gewesen, als Dr. W. ihr zwei Analstöpsel einführte und dabei Fotos machte. Er hatte ihr vorher gesagt, er werde für eine Studie Untersuchungen an ihr machen. Trotz des Beruhigungsmittels fuhr sie nach der „Behandlung“ nach Hause und ging zum Tanzunterricht, wo sie auffiel, weil es ihr nicht gut ging.

Gegen Mitternacht traf sie sich mit ihrem Vater, einem Internisten aus Coburg, auf einem Parkplatz nahe Zapfendorf. Der Internist entnahm seiner Tochter Blut und schickte es morgens an ein Labor in Augsburg. Die Werte, so W.s Verteidiger, könnten nicht stimmen. Denn nach den Werten, die das Labor festgestellt hat, müsste das Beruhigungsmittel „deutlich später in das Blut der Frau S. gelangt sein“, so W.s Verteidiger Klaus Bernsmann. Somit könne Dr. W. seine junge Studentin gar nicht betäubt haben.

Auf dem Video der "Untersuchung"reagiert die Zeugin noch

Tatsächlich liegt ein Video vor, das kurz nach 17 Uhr aufgenommen wurde, in dem Romana S. zu sehen ist, wie sie während der „Untersuchung“ auf die Worte von Dr. W. reagiert. Sie dreht sich auf die Seite, als er es wollte; ihre Muskeln sind nicht schlaff wie bei einem völlig betäubten Menschen.

Sie kann also nicht „ganz weg“ gewesen sein. Nähme man aber den vom Labor gefundenen Wert und rechne ihn hoch, dann müsste Romana S. völlig betäubt gewesen. „Bei feststehender angeblicher Verabreichung von „Midazolam“ gegen 17 Uhr und angeblicher Abnahme des Blutes bei Frau S. gegen Mitternacht kann ‑ungeachtet des Ergebnisses des Labors‑ Dr. W. für den von dem Erlanger Institut festgestellten Midazolamwert im Blut von Frau S. nicht verantwortlich gewesen sein.“ Bei den Werten, die sich daraus errechnen lassen, „schlafen so gut wie alle Menschen ein“, so Verteidiger Bernsmann. Sie habe sich nicht mal in einer Vorstufe des Schlafes befunden.

Es ist ein neuer, recht scharfer Vorwurf an die Ermittler. „Jede genauere Untersuchung hätte ergeben, dass es nach Maßgabe der vorliegenden Blutwerte ausgeschlossen ist“, dass Dr. W. der Frau am 28. Juli 2015 so viel Betäubungsmittel gespritzt hat, dass er sie sexuell hätte missbrauchen können. „Das Midazolam, das gefunden wurde, kann Dr. W. gar nicht gespritzt haben“, so Bernsmann. Denn das Mittel hätte viel schneller abgebaut sein müssen.

"Kritiklose" Ermittler?

Ein weiterer Vorwurf in Richtung Ermittler: Sie hätten die toxikologischen Werte „kritiklos“ übernommen, ohne es von Fachleuten untersuchen zu lassen. Bernsmann: „Ich sehe unter den Gutachtern keinen Pharmakogen“ – noch ein Vorwurf. Denn dieser hätte herausfinden können, dass die Werte gar nicht stimmen konnten. Man habe sich auf einen Laborarzt verlassen.

Wenn diese Berechnungen stimmen, dann liege kein dringender Tatverdacht gegen Dr. W. vor. Deshalb sei er sofort aus der Haft zu entlassen. In Haft darf nur, gegen wen ein „dringender“ Verdacht vorliegt, nur aufgrund eines „hinreichenden“ Verdachts dürfe niemand inhaftiert werden. Der letzte – eher versteckte – Vorwurf in Richtung Ermittler: Sie hätten nicht genügend Material gesammelt, um die Unschuld von Dr. W. zu belegen. Auffallend ist, dass der Internist und Vater der Hauptzeugin bislang überhaupt nicht vernommen wurde. Auffallend ist auch, dass Romana S. vor der Blutentnahme auf dem Parkplatz nochmal zu sich nach Hause gefahren ist. Auffallend ist weiter, dass die Blutentnahme auf einem Parkplatz war, nur wenige Kilometer vor der Praxis ihres Vaters entfernt.

„Wir haben medizinische Untersuchungen, die eine Betäubung belegen. „Meine Mandantin hat sich nichts eingebildet“, sagte Romana S.s Anwalt. „Ich sehe keine Fakten, ich sehe nur Mutmaßungen.“

Doch selbst der oberste Ankläger, der leitende Oberstaatsanwalt Bernd Lieb, räumte Fehler ein. Bisher habe man sich an den Gutachter des Toxikologen gehalten – und sei von seinen Werten als richtig ausgegangen .Allerdings seien, das räumte Lieb auch ein – die Uhrzeiten „nicht ganz korrekt“. In der fast einstündigen Verhandlungspause hat Lieb im Internet recherchiert. Er ist „gern bereit, sich ausführlichst gutachterlich“ beraten zu lassen.

Prozessfortgang ungewiss

Das Gericht muss jetzt entscheiden, ob es einen zusätzlichen Gutachter beruft, der sich mit toxikologischen Gutachten auskennt. Und es muss entscheiden, ob W. aus der Untersuchungshaft zu entlassen ist. Bis wann? „Für bestimmte Entscheidungen braucht es Zeit“, sagte der Vorsitzende Richter Manfred Schmitt. Nächsten Montag wird der Prozess fortgesetzt.

Seit vier Monaten steht der ehemalige Chefarzt des Bamberger Klinikums vor Gericht. Die angeblichen Opfer kamen bisher noch gar nicht zu Wort. Er bestreitet jeden Vorwurf. Alles habe er aus rein medizinischen Gründen gemacht. Bei den Frauen hat er sich lediglich dafür entschuldigt, ihr Selbstbestimmungsrecht nicht geachtet zu haben.

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