Buchmesse: Tipps aus den Gastländern

Start in die Buchmesse: In Frankfurt kommen Fans und Fachleute, Autoren und Verleger zusammen. Mit den Niederlanden und den Flandern als Gästen.  Ein Bericht darüber, was Frankfurt von den alten Niederlanden lernen kann. Und einige Tipps aus der reichen Szene unserer Nachbarn.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

In der zeitlos schönen Essaysammlung „Nootebooms Hotel“ von 2002 findet sich eine kleine Geschichte über „Holländische Tulpen, holländische Tränen“. Darin erzählt Autor Cees Nooteboom vom sogenannten Tulpenwahn in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Es sei heute kaum nachvollziehbar, dass sich sein „für gewöhnlich so gelassenes und besonnenes Vaterland“ damals in einen kollektiven Spekulationsrausch hineingesteigert habe, an dessen Ende eine einzige Tulpenzwiebel mehr kostete als ein „herrschaftliches Haus“ in Amsterdam.

Der erste Börsencrash

Über den plötzlichen Einbruch von Hysterie in eine scheinbar wohl geordnete Welt wird noch zu reden sein. Das belgische Flandern und die Niederlande sind in diesem Jahr Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse, mit rund 7 000 Ausstellern und erwarteten 285 000 Besuchern der weltweit wichtigste Branchentreff. Zur Eröffnung des Pavillons gestern hatten sich gleich drei gekrönte Häupter angesagt: der niederländische König Willem-Alexander sowie das belgische Königspaar Philippe und Mathilde.

Das Publikum kann sich bis zum 23. Oktober allein über 376 Neuerscheinungen aus und über Flandern und die Niederlande informieren; 70 flämische und niederländische Autoren wollen in die Messestadt am Main kommen. Darunter – natürlich – auch Cees Nooteboom. Aber es geht dem künstlerischen Leiter des Ehrengast-Auftritts Bart Moeyaert nicht nur um die großen, in Ehren ergrauten Köpfe.

Debatten über Theo van Gogh

Seit dem ersten Auftritt als Gastland 1993 seien fast 25 Jahre vergangen, betont Moeyaert. „Es gibt neue Namen, neue Menschen, eine neue Dynamik!“, sagt er und fügt unter Anspielung auf das Motto „Dit is wat we delen“ („Das ist, was wir teilen“) und das Motiv der die Niederlande und Flandern verbindenden Nordsee hinzu: „Es ist wie das Meer, es ist alles in Bewegung, es liegen Schätze am Strand.“

Nun ist in den vergangenen 25 Jahren auch außerhalb der Literatur einiges in Bewegung geraten. Dafür stehen etwa der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh 2004, der Aufstieg rechter Parteien, der islamistische Terror und die großen Flüchtlingsbewegungen nach Europa.

Hat dieses Wüten der ganzen Welt Spuren im literarischen Betrieb hinterlassen? Die Debatte über van Gogh und seine umstrittenen, mitunter geschmacklosen Religionssatiren, an der sich auch Schriftsteller beteiligten, zeigte deutliche Risse in der bis dahin so sorgsam gepflegten Fassade von Toleranz und Gelassenheit bei den niederländischen Nachbarn. Die Lust an Provokation mit Religion treibt dessen ungeachtet den aus einer jüdischen Familie stammenden Arnon Grunberg um, der zusammen mit seiner belgischen Kollegin Charlotte Van den Broeck in Frankfurt als „Gastlandsprecher“ fungiert. In Belgien nahm nach den jüngsten Terroranschlägen die Debatte über Parallelgesellschaften im Einwanderer-Milieu an Schärfe zu.

Den Versuch, Migranten eine Stimme zu leihen, unternahm die aus Marokko stammende Schriftstellerin Rachida Lamrabet, Jahrgang 1970, mit ihrem 2010 auf Deutsch erschienen Roman „Frauenland“. Für Furore sorgte im gleichen Jahr David Van Reybroucks Geschichte des Kongo. Auch weil der heute 45-Jährige darin die lange beschwiegenen dunklen Kapitel der belgischen Kolonialepoche nicht ausblendete.

Was Frankfurt von Nooteboom lernen kann

Historisches aufzuarbeiten und neu zu erzählen – das ist seit einiger Zeit nicht mehr nur die Spezialität des inzwischen 69 Jahre alten „dokumentarischen Schriftstellers“ Geert Mak. Der lobte unlängst überschwänglich Mark Schaevers Biografie des Malers Felix Nussbaum, „Orgelmann“, soeben auf Deutsch erschienen.

Nootebooms Geschichte vom Tulpenwahn endet in der Stadt, die früher Nieuw Amsterdam genannt wurde. „Der Traum von einer Blume, die bis in den Himmel wachsen und ewig Frucht tragen würde“ müsste den Aktienhändlern in New York eigentlich bekannt vorkommen, schreibt er it mahnendem Unterton. In der Bankenmetropole Frankfurt, die sich nach dem Brexit anschickt, „das“ europäisches Finanzzentrum zu werden, sollten sie sein Buch zur Hand nehmen. kna

Weitere Tipps aus Flandern und den Niederlanden

Reisen zu Hieronymus Bosch

„Selten hat ein unsichtbar gewordener Mann so viel Sichtbares hinterlassen.“ Schreibt der Niederländer Cees Nooteboom in seinem staunenden Essay-Bildband über Hieronymus Bosch (ca. 1450 - 1516) Eines unserer Fotos zeigt einen Ausschnitt aus dem rechten Seitenflügel des Triptychons „Der Garten der Lüste“. Er zeigt "die Hölle". Ein Wimmelbild des Grotesken, so typisch für Bosch und die Rätsel, vor die er uns stellt. Nooteboom sieht in diesen Bildern, die etwa nur Spaniens strengen König Philipp II. faszinierten, nicht nur Albträume, sondern „düstere Vorahnungen“ in einer Welt am Ende ihrer Gewissheiten. Man kann auch sagen: Bosch malte an der Zeitenwende um 1500 die Albträume, die einen bei wachem Verstand beschleichen. Bosch ahnte das Chaos unter der Oberfläche – genau das fesselt uns erneut. Cees Nooteboom, „Reisen zu Hieronymus Bosch“, 80 Seiten, 60 Abbildungen Schirmer und Mosel, 29,80 Euro. we

Das Leben unserer Urgroßväter

Für einen jungen Menschen ist der Großvater etwas Wunderliches, mehr gemocht als gefürchtet, Erzähler drolliger Anekdoten, kaum aber Anlass darüber nachzudenken, dass auch der Greis mal jung war. Eben das aber hat Stefan Hertmans gemacht: nachgedacht, in Aufzeichnungen nachgelesen, nachgespürt. Und damit eine Biografie seines Großvaters geschaffen, der Künstler werden wollte und auf den Schlachtfeldern Flanderns landete. Eine Lebensgeschichte, deren Leerstellen er mit Phantasie und erzählerischem Einfühlungsvermögen ausfüllt. Nicht nur ein Denkmal, am Leben seines Großvaters beschreibt Hertmans vielmehr die Zeit vor hundert Jahren, in den Lebensumständen unvorstellbar weit weg, in den menschlichen Regungen ganz nah. Ein junger Belgier im Ersten Weltkrieg, kein Held, aber auch kein Schelm, ein irgendwie ganz normaler Mann. Feinsinnig, schön und grausam, fast so fesselnd wie Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“.

Stefan Hertmans, „Der Himmel meines Großvater“, Hanser, 320 Seiten, 22,90 Euro. we

Ein Mädchen zwischen den Kriegen

Wie kriegen die Holländer das so regelmäßig hin, dass sich Tragik und schlimme Zeitläufte so geschmeidig mit einer schöner Sprache und viel Humor zu einem spannenden Erzählung verbinden? In den 20er Jahren wächst Gittel in einer Familie mit leicht überdurchschnittlichem Chaos-Faktor auf. Immer wenn sich die Eltern streiten, packt die Mutter ihre sieben ’Sachen und fährt mit Gittel zu den Großeltern nach Antwerpen. Dort lehnt sie die ältere Lucie kennen, die ihr Klavierspielen ermöglicht und ihr eine Welt öffnet. Doch Lucie verfolgt eigene Pläne, wie Gittel irgendwann feststellen muss: Sie dient der älteren Freundin vor allem dazu, ihre Liebe zum Lehrburschen des Hauses zu vertuschen. Eine Geschichte, in die Ida Simons eigene Anschauung einfließen ließ. Als Ida Rosenheimer 1911 auf die Welt gekommen, kannte sie das Leben in Antwerpen zwischen den Kriegen. Sie startete eine Karriere als Konzertpianistin, wurde aber 1943 mit Mann und Sohn von den Nazis deportiert. Die Familie überlebte den Weltkrieg, die Folgen der KZ-Haft aber machten die Hoffnungen auf eine Fortsetzung der Musiker-Karriere von Ida Simons nach dem Krieg zunichte. Sie begann zu schreiben, und ihr Roman erschien 1959, kurz vor ihrem Tode. Den großen Erfolg ihres Buches erlebte sie nicht mehr. Anlässlich des Auftritts der Niederlande auf der Buchmesse legte der Luchterhand-Verlag den zauberhaften Roman in einer neuen Übersetzung vor.

Ida Simons, „Vor Mitternacht“, Luchterhand, 224 Seiten, 20 Euro. we

Heimtücke an der Hochschule

Ein alternder Chemiker erhält, was er er selber nie mehr erwartet hätte: den Nobelpreis. Seine Frau weiß die Auszeichnung nicht zu würdigen, die Kollegen aber gratulieren – und starten neiderfüllt Intrigen. Es ereignen sich Uni-Besetzungen durch aufrührerische Studenten, Fahrten in den Puff und vieles andere in dieser akademischen Parallelwelt, in der sich professorale Missgunst über einen „Fachidioten“ entlädt, der noch nicht mal in einem Lexikoneintrag verewigt ist. Willem Frederik Hermans, einer der Meister der modernen niederländischen Literatur, hat diesen Klassiker über die Parallelwelt der Unis 1975 geschrieben. Und siehe, es kommt uns vieles immer noch bekannt vor: der Neid, die Selbstüberschätzung der Lehrer, das nervende Daherschwadronieren wohlstandsverwöhnter Studenten, die klebrigen Begierden alternder Männer. Zur Buchmesse auf Deutsch, sehr bissig, ziemlich witzig.

Willem Frederik Hermans, „Unter Professoren“, Aufbau Verlag, 512 Seiten, 22,95 Euro. we

Was geschah mit Osama bin Laden?

Einsatz in Pakistan, Elitesoldaten pirschen sich ans Fluchtdomizil des Staatsfeindes Nr. 1 heran. Mit dem Codenamen „Geronimo“ sollten die Navy Seals melden, wenn sie Osama bin Laden gestellt hatten. So weit, so bekannt. Aber ist die Geschichte wirklich so verlaufen, wie anschließend berichtet? Und wenn nicht, wem würde ein lebender bin Laden am meisten nützen? Leon de Winter tut in diesem Roman, was er am besten kann: Das große Geschehen mit der Geschichte einzelner Menschen zu verknüpfen. In diesem Falle die Geschichte vom Ex-Seal Tom, der über den Tod seiner Tochter nicht hinwegkommt, und die von Apana, einem geflüchteten Mädchen, das in der Obhut von bin Laden gewesen war. Tom und und Apana verbindet die Liebe zu Bach und den Goldberg-Variationen, die Mächte hinter dem Geschehen aber die Teilnahme an dem großen Spiel, das der Ungehorsam der Seals in Abbottabad erst ausgelöst hat. Geglückte – und nur ganz klein wenig kitschige Mischung aus Polit-Thriller, Verschwörungsplot und anrührender Erzählung.

Leon de Winter, „Geronimo“, Diogenes, 448 Seiten, 24 Euro. we

Die Enttäuschung und die Leidenschaft

Ted Hughes, der englische Dichter und Kinderbuchautor, hatte lange Zeit schlechte Karten in der Öffentlichkeit. Das lag keineswegs an seinem literarischen Werk; seine 1998 kurz vor seinem Tod erschienen „Birthday Letters“ etwa, die sich mit dem Freitod seiner Frau, der Lyrikerin Sylvia Plath, beschäftigten, sind poetische Standardwerke. Sie sind wild, voller Schmerz, Wut, auch Resignation und Erinnerungen an Zärtlichkeit und verpasste Möglichkeiten. Sylvia Plath, die zarte, resolute, wesentlich jüngere Dichterin der „Glasglocke“ stand zeitlebens ein wenig in Hughes Schatten, bis sie sich für immer aus Depression und Abhängigkeit entfernte und zwei Kinder und Mann auf dieser Welt zurück ließ. Die Rollen schienen recht klar verteilt.

Wo liegt die Schuld?

Die niederländische Autorin Connie Palmen hat sich die Geschichte des Autorenpaars vorgenommen. Auch wenn es nicht die persönliche Erfahrung, sondern die imaginierte Empathie ist, die die Größe von Literatur ausmacht, ist es nicht unbedeutend, dass Palmen selbst schwere Verluste im Leben verarbeiten musste und dazu immer auch das literarische Format wählte. Sowohl über den Tod ihres Mannes als auch über den Verlust ihres Geliebten schrieb sie mit schrecklicher, berührender Offenheit. Und nun dies, ein Buch, das sich mit dem ikonischen Dichterpaar auseinandersetzt. Und auf ihn, Hughes, fokussiert, auf sein Weiterleben. Ein fiktiver Ted Hughes spricht hier, er schildert die Ratlosigkeit, die Wut, die Enttäuschung und die Leidenschaft. Dass in Hughes Leben Sylvia Plaths Suizid nicht der einzige blieb – seine zweite Frau nahm sich auf die gleiche Weise das Leben und das ihres Kindes dazu – hat die Medien auf die Dominanz Hughes, auch auf eine vermeintliche Gewalttätigkeit schließen lassen. Wer aber kann wissen, was zwischen Menschen geschieht? In einem Interview erzählte Connie Palmen, dass sie in in den Zeiten der Trauer um ihren Mann die Tagebücher von Hughes las. Mit diesem Fokus erzählt sie die Geschichte einer Liebe, die sich immer um Macht kreiste. Was ihr gelingt mit diesem traurigen, vielleicht mutigen, vielleicht anmaßenden Buch, das an der Oberfläche der Eindeutigkeiten kratzt, ist die Verschiebung der Perspektive. Es fragt: Wer ist der Schuldige? Wo liegt die Schuld? Dazwischen, vielleicht, im Moment des Fragens? Das ist nie zu beantworten, aber was Literatur wie diese macht, ist, wachzuhalten, dass es keine Eindeutigkeiten gibt. Und den komplizierten Schmerz zu berühren, den der Tod eines wie auch immer geliebten Menschen bedeutet: diese durch Schuldgefühle und Sehnsucht erhaltende Wunde, die sich nicht schließt 

Conny Palmen, „Du sagst es“, Diogenes, 288 Seiten, 22 Euro. frl

Autor