Bayreuther Experte: Keine sauberen Spiele

Den 100-Meter-Lauf zählt Doping-Forscher Walter Schmidt zu den Disziplinen, in denen man ohne Manipulation kaum noch eine Medaille gewinnen kann. So war es wohl auch schon bei den Olympischen Spielen 2012 in London, als Usain Bolt (rechts) aus Jamaika seinen Sieg feierte und Justin Gatlin (links) aus den USA Dritter wurde. Foto: dpa Foto: red

An Resignation denkt er nicht, aber große Hoffnung hat er auch nicht: Doping-Forscher Professor Walter Schmidt von der Universität Bayreuth geht nicht davon aus, dass bei den Olympischen Spielen in Rio weniger manipuliert werden wird als in früheren Jahren. Durch die Zulassung russischer Sportler trotz des staatlich organisierten Dopings sieht er seine Zweifel am politischen Willen zu einem konsequenten Anti-Doping-Kampf bestätigt. So kommt er im Kurier-Interview zu einem ziemlich deprimierenden Schluss: In mancher Disziplin wird ohne Manipulation keine Medaille zu holen sein.

 
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Wie bewerten Sie die IOC-Entscheidung, die russischen Sportler nicht pauschal von den Olympischen Spielen in Rio auszuschließen?

Prof. Walter Schmidt: Ich denke, das ist sehr kritisch zu sehen. Die Entscheidung hat mich gewundert, und es hat mich gewundert, wie einmütig es entschieden wurde. Die IOC-Vollversammlung hat das ja bestätigt, indem von 90 Stimmen 89 dafür waren. Das hat nichts mit der Null-Toleranz-Politik zu tun, von der IOC-Präsident Thomas Bach früher gesprochen hat. Thomas Bach hat eine politische Entscheidung getroffen, hat damit eine Konfrontation mit Russland vermieden und dadurch das IOC abgesichert. Für den Sport, für den das IOC ja eigentlich steht, ist diese Entscheidung eine Katastrophe, da er hierdurch seine moralische Grundlage verliert. Als Wissenschaftler bin ich jemand, der Untersuchungsmethoden entwickelt und weiß, wie getestet wird und mit welcher Genauigkeit. Hier geht es aber nicht um wissenschaftliche Probleme, sondern um strukturelle und administrative Missstände, auf die offensichtlich das IOC und die Wada (Welt-Anti-Doping-Agentur; Anm. d. Red.) nicht vorbereitet waren.

Wie lassen sich diese Probleme beschreiben?

Schmidt: Bisher hieß es immer, es sei ein Hase-und-Igel-Spiel, weil ständig neue Methoden der Manipulation entwickelt werden und immer erst später nachgewiesen werden können. Damit hatte man ein wissenschaftliches Problem und ein organisatorisches Problem, indem man den richtigen Zeitpunkt zum Testen finden musste. Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass es ein strukturelles Problem gibt: Man kann Doping so gut nachweisen wie man möchte – wenn die Proben verschwinden, und zwar gleich Hunderte, wenn nicht Tausende, dann hilft das nichts. Der McLaren-Report spricht von 643 bewiesenermaßen positiven Proben; und insgesamt von weit über 1000 Proben, die einfach weg sind. Da kann eine verbesserte Analytik auch nichts ausrichten.

Ergebnisse von Nachtests "eine Blamage"

Diese neue Dimension wäre für Sie ein Anlass, um ein Exempel zu statuieren, auch wenn man sich damit dem Vorwurf eines Pauschalurteils aussetzt, das auch Unschuldige treffen könnte?

Schmidt: Das hätte auch Unschuldige getroffen. Aber wenn man jetzt von den gesicherten Vorkommnissen ausgeht – und ich glaube sicher, dass der McLaren-Report das tut –, dann ist die gesamte Leichtathletik davon betroffen gewesen, alle Gewichtheber, und in anderen Sportarten hat man das sicher auch gewusst. Wir haben hier auch eine eigene Studie durchgeführt, wo wir positive und sanktionierte Dopingfälle von 2000 bis 2013 untersucht haben – und da war Russland schon absolut führend. Was in diesem Zusammenhang auch zu selten diskutiert wird, sind die Nachtests. Man spricht immer von riesengroßen Erfolgen, aber aus meiner Sicht ist das eine riesengroße Blamage vor allem für das IOC und vielleicht auch für die Wada: 2008 in Peking feierte man die „saubersten Spiele aller Zeiten“, weil bei 4500 Tests nur die Proben von fünf Athleten – und vier Pferden – positiv waren. 2012 in London waren es 5000 Tests und soweit ich weiß nur ein positives Ergebnis. Also noch sauberer! Mittlerweise hat man aber schon 98 positive Ergebnisse bei knapp 1200 Nachtests, und da kommen noch zwei Untersuchungswellen hinzu. Es waren also bei weitem keine sauberen Spiele in Peking und auch nicht in London. Und so wird es diesmal auch sein.

Das passt jetzt aber wieder zu dem angesprochenen wissenschaftlichen Problem: Die Ermittler hinken immer um Monate und Jahre hinterher.

Schmidt: Richtig. Aber was nicht passt, ist, dass die Verantwortlichen damals von sauberen Spielen gesprochen haben. Dabei gab es schon genug Untersuchungen dazu, wie viel Prozent der Athleten tatsächlich dopen – nicht nur mit naturwissenschaftlichen Methoden, sondern auch mit sozialwissenschaftlichen. Alle kamen zum gleichen Ergebnis, dass bei den großen Ereignissen massiv manipuliert wird.

Trotzdem: Wäre es zu verantworten gewesen, dass man auch einen unverdächtigen russischen – sagen wir: Bogenschützen – von den Spielen ausschließt? Wäre eine solche neue Dimension der Strafe die richtige Antwort auf die neue Dimension des organisierten Staatsdopings?

Schmidt: Es kommt darauf an, was man will. Wenn man wirklich jeden starten lassen will, der nicht ausdrücklich überführt ist, dann muss man sich das fragen. Wenn man aber davon ausgeht, dass alles eine große Show ist, dass die Kernsportarten total verseucht sind? Wenn man beispielsweise bei den 100-m-Läufern weiß, dass der Amerikaner Gatlin schon zweimal gesperrt worden ist – einmal für acht Jahre, was dann auf vier reduziert wurde – jetzt aber schneller ist als damals? Wenn man nicht nur das Spektakel will, sondern will, dass die Spiele sauberer und ehrlicher werden, dann muss man die Leute sperren. Sonst werden die Olympischen Spiele zur Farce. In den Sportarten mit der größten öffentlichen Aufmerksamkeit und da, wo Kraft und Ausdauer die größte Rolle spielen, werden immer die Gedopten gewinnen. Das ist ja nicht nur ein russisches Problem.

Der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, Sebastian Coe, hat kürzlich Kenia und Äthiopien ausdrücklich als verdächtig genannt.

Schmidt: Ganz Ost- und Nordafrika ist problematisch. Aber auch beispielsweise in Jamaika wird nicht so intensiv getestet.

Vor einigen Jahren haben Sie selbst eine Studie mit Läufern aus Kenia durchgeführt. Ergab das damals Erkenntnisse zum Doping?

Schmidt: Mit Untersuchungen in Kenia selbst hatten wir nicht viel Erfolg, aber wir hatten dann zehn Weltklasse-Läufer für sechs Wochen hier in Bayreuth. Allerdings haben wir gar nicht in Richtung Doping untersucht. Es ging darum, wie sie sich körperlich von den besten deutschen Läufern, die wir damals als Vergleichsgruppe hatten, unterscheiden. Es hieß immer, die Kenianer sind so gut, weil sie in der Höhe leben und trainieren. Wir haben aber festgestellt, dass sie nicht mehr Blut haben. Auch die Herzgröße unterscheidet sich nicht von den deutschen Läufern. Und nach den sechs Wochen lagen sie mit ihren Blutverhältnissen im Bereich von ambitionierten Hobbyläufern. Ihr großer Vorteil ist jedoch, dass sie bei gleicher Geschwindigkeit weniger Sauerstoff verbrauchen. Sie laufen also ökonomischer. Die Kenianer brauchen etwa zehn Prozent weniger Energie und können entsprechend zehn Prozent an Leistung zulegen.

Nach ihren vorherigen Thesen reicht das aber offenbar nicht, um Olympiasieger zu werden. Sie gehen davon aus, das trotzdem noch mit unerlaubten Mitteln nachgeholfen wird?

Schmidt: Ich bin überzeugt, die würden auch so Olympiasieger werden. Wenn niemand dopt, dann würde ich sagen, dass die Afrikaner allen anderen voraus sind.

Die Entscheidung über den Ausschluss der russischen Sportler hat das IOC den einzelnen Fachverbänden aufgezwungen. Sind die alle gleichermaßen kompetent und vertrauenswürdig – und hatten sie genug Zeit dafür?

Schmidt: Genug Zeit hatten sie bestimmt nicht. Ansonsten kommt es darauf an, wie die Verbände betroffen sind. Leichtathletik und Gewichtheben, die ja ihre Entscheidung schon vorher gefällt hatten, sind extrem betroffen, andere sicher weniger. Beim Tennis etwa kann ich mir vorstellen, dass sehr viele internationale Tests vorgenommen worden sind und dass man daher die russischen Sportler genauso behandeln sollte wie die anderen. Es kommt auch darauf an, wie diese Verbände organisiert sind, wie groß beispielsweise der Einfluss Russlands ist. Die Tests innerhalb Russlands sind sehr schwer zu beurteilen, da die internationalen Tester oft massiv behindert worden sind.

Dopingquote in manchen Ländern über 50 Prozent

Ist die Kritik des IOC berechtigt, dass die Wada für den engen Zeitrahmen für die Entscheidung verantwortlich ist?

Schmidt: Teilweise sicherlich. Aber gerade in letzter Zeit hat die Wada meines Erachtens hervorragend gearbeitet. Trotzdem haben aber Journalisten wichtigere Fakten ans Tageslicht gebracht als die Wada mit allen Tests. Hajo Seppelt von der ARD ist mit einer Liste von ca. 12 000 Blutdaten an die Öffentlichkeit gegangen und zu Experten, die gesagt haben: 30 Prozent der Athleten haben manipuliert. Eine frühere Liste mit über 7000 Daten war aber auch schon Jahre vorher von Kollegen aus der Schweiz untersucht worden mit dem Ergebnis: Die Dopingquote lag bei 14 Prozent, in Ausdauersportarten bei 18 Prozent und in manchen Ländern deutlich höher als 50 Prozent. In der Wissenschaft haben wir da schon Bescheid gewusst. Bei der Leichtathletik-WM 2011 gab es zudem eine Studie mit der Befragung von 1800 Athleten, und rund ein Drittel hat zugegeben, gedopt zu haben, wobei die Veröffentlichung der Ergebnisse vom Internationalen Leichtathletikverband untersagt wurde. Und trotz dieser klaren Anzeichen gab es keine entsprechenden Gegenmaßnahmen. Ohne den öffentlichen Druck wäre es auch jetzt nie so weit gekommen.

Ausschluss von Kronzeugin Stepanowa "eine Katastrophe"

Was sagen Sie dazu, dass auch Julia Stepanowa wegen ihrer Dopingvergangenheit ausgeschlossen worden ist, obwohl ihren Aussagen die Erkenntnisse über das russische Staatsdoping zu verdanken sind? Ist das nicht ein falsches Signal für künftige Kronzeugen?

Schmidt: Das ist eine Katastrophe! Sie hat auch gedopt, klar. Aber sie hat ihre Sperre bekommen und sie hatte vor allem den Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen. Man hätte sie unter neutraler Flagge starten lassen sollen. Das hätte den Leuten Mut gemacht, ebenfalls Interna preiszugeben. Aber so: Wer traut sich das jetzt noch? Man erinnere sich nur an den Radsport: Wer da offen über Doping gesprochen hat, konnte nie wieder Fuß fassen. Das scheint im gesamten Spitzensport so zu sein.

Keine Sportart ohne Möglichkeit der Manipulation

Gibt es Sportarten, die unverdächtig sind, weil Doping „nichts bringt“, weil nicht Kraft und Ausdauer im Mittelpunkt stehen, sondern eher Technik und Konzentration?

Schmidt: So hat man beim Fußball lange Zeit argumentiert, aber das stimmt mit Sicherheit nicht. Dazu ist Fußball mittlerweile zu athletisch geworden. Bei Sportarten wie Schießen oder Bogenschießen könnte ich mir vorstellen, dass Manipulationen im Vorfeld relativ wenig bringen. Aber es kann während des Wettkampfes hilfreiche Dinge geben, zur Beruhigung etwa. Meines Erachtens gibt es keine Sportart, in der es überhaupt keine Möglichkeit zur Manipulation gibt. Aber die Unterschiede sind groß. Entsprechend unterschiedlich häufig wird da auch getestet. Die deutsche Anti-Doping-Agentur Nada hat daher auch vier Testpools eingeführt, deren Mitglieder unterschiedlich oft getestet werden.

Auf dem Podium der 100-m-Läufer ist jeder verdächtig

Muss man folglich davon ausgehen, dass man ohne Manipulation gar keine Medaille mehr gewinnen kann? Sind alle verdächtig, die auf dem Podium stehen?

Schmidt: In bestimmten Sportarten: ja. Über 100 Meter würde ich sagen: absolut. Bei den 1500 Metern der Frauen wurde letztes Mal davon gesprochen, es sei der „durchseuchteste“ Endlauf aller Zeiten gewesen. Ich glaube es aber nicht – da gab es auch noch eine Reihe von anderen Läufen. Leider sind es gerade die zugkräftigen Wettbewerbe. Im Handball zum Beispiel könnte ich mir dagegen durchaus vorstellen, dass da nichts genommen wird. Die nehmen sicher ihre Schmerzmittel, aber die stehen nicht auf der Dopingliste.

Muss man bei solchen Erkenntnissen nicht irgendwann zu dem Schluss kommen, dass der Kampf gegen Doping letztlich aussichtslos ist?

Schmidt: Wenn es solche Strukturen gibt wie in Russland oder auch Kenia und diese Strukturen nicht bekämpft werden – dann ja. Es ist auch ein Unding, dass die Verbände und die einzelnen Nationen ihre eigenen Sportler kontrollieren. Da müssen ja viele gegen ihre eigenen Interessen handeln. In einigen Ländern läuft das sicher korrekt ab, in Deutschland oder zum Beispiel Frankreich kann ich mir nicht vorstellen, dass manipuliert wird. Aber in Russland ist es eben nicht so gewesen, und in einigen anderen Ländern wohl auch nicht. Da müssen andere Testsysteme eingeführt werden. Sofern es die Wissenschaft betrifft: Es werden immer wieder neue Dopingsubstanzen und Methoden auf den Markt kommen, gegen die erst mit einer Verzögerung Nachweismethoden entwickelt werden. Deswegen ist es auch sinnvoll, die Proben zehn Jahre lang aufzuheben, auch wenn das dem einzelnen Sportler nicht viel bringt. Wenn man nach zehn Jahren eine Medaille zuerkannt bekommt, weil jemand disqualifiziert wurde, dann hat man nicht mehr viel davon.

Freigabe von Doping "keine Option"

Ist Resignation eine Alternative – also Freigabe des Dopings?

Schmidt: Das darf man nicht zulassen. Dann würde jeder so weit manipulieren können, wie es nur geht, und das kann enorme gesundheitliche Schäden zur Folge haben. Dann gewinnt, wer dabei am „mutigsten“ ist. Und was noch schlimmer ist: Unsere Kinder und Enkel würden vielleicht schon als Zwölfjährige manipulieren. Dann müsste man im Jugendbereich und im Amateurbereich Kontrollen einführen. Wo zieht man da dann die Grenze? Nein: Die Freigabe von Doping ist keine Option.

Das Gespräch führte Eberhard Spaeth

Zur Person

Professor Walter Schmidt (61) leitet die Abteilung Sportmedizin und Sportphysiologie am Lehrstuhl Sportwissenschaft IV der Universität Bayreuth. Wiederholt arbeitete er an Projekten mit Unterstützung der Welt-Anti-Doping-Agentur, aktuell gerade zur Frage, wie sich Kobalt auf die Blutbildung auswirkt: „In den 60er Jahren war das mal ein Medikament gegen extreme Blutarmut. Wir schauen uns aber die Wirkung ganz kleiner Dosen an.“

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