Augen zu und durch

Florian Zinnecker
 Foto: red

 Dass ausgerechnet Christian Thielemann in dieser Saison die beiden Produktionen mit den größten szenischen Defiziten zu dirigieren hat, ist natürlich ein wenig ungerecht – aber auch ein großes Glück. Der einspurige, viel zu artig gewordene „Holländer“ lebt immerhin noch von einer Reihe guter Ideen. Dem „Tannhäuser“ in der Regie Sebastian Baumgartens, dessen Wiederaufnahme-Premiere am Samstag stattfand, fehlen diese guten Ideen schmerzlich. 

 
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Es fehlt überhaupt allerhand, auch noch im zweiten Jahr. Zum Beispiel eine gute Inszenierung. Vor allem eine gute Inszenierung.

Im Premierenjahr 2011 ist Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“ einhellig durchgefallen. Die Presse ließ kaum ein gutes Haar an der Produktion, so wenig wie das außer sich geratende Publikum. Und im Festspielhaus wurde offen die Frage gestellt: Was ist nur in den Regisseur gefahren?

Und natürlich denkt man, wenn man diesen „Tannhäuser“ noch nicht gesehen und ihn auch im vergangenen Jahr nur am Rande registriert hat: Die übertreiben. Alle. Weil es wahrscheinlich nur einfach modern ist, nicht gefällig, unkonventionell.

Dann beginnt der erste Aufzug.

Dann der zweite.

Und dann der dritte.

Und man beginnt, traurig zu werden, weil mit diesen fabelhaften Sängern, diesem einzigartigen Chor, diesem wunderbaren Orchester – und nicht zu vergessen: dieser zu allem bereiten Statisterie, den Werkstätten des Festspielhauses, aber vor allem: mit dieser Bühne! – so viel mehr möglich gewesen wäre.

Die Produktion ist nämlich nicht nur einfach modern, nicht gefällig, unkonventionell. Sie ist nicht gut, das ist es. Und natürlich stellt sich genau an diesem Punkt die Frage, warum so etwas überhaupt möglich ist. Wie das passieren konnte. Wurden die Mängel dieser Produktion – über die Neubesetzung der Titelrollen hinaus – im Haus und in der Intendanz nicht gesehen? Konnte man sich nicht durchsetzen? Oder wurde das alles hingenommen, obwohl es mit Sicherheit bessere Wege gibt, Publikum für die Oper zu interessieren und für die Relevanz des eigenen Festivals zu werben?

Der Jubel für die Sänger und vor allem den wirklich, wirklich großartigen Chor (Leitung: Eberhard Friedrich), der sich von den Widrigkeiten um ihn herum nicht beirren lässt, ist groß an diesem Abend. Das Bühnenbild hingegen schafft es, sogar bei der Applausordnung zu stören – weil immer irgendein Kessel furchtbar im Weg steht. Ohnehin liegt darin schon das erste große Missverständnis: Bühnenbild bedeutet nicht, die Bühne vollzustellen mit Biogastanks, Alkoholatoren und anderen Dingen, die alle etwas bedeuten, aber die Sänger furchtbar behindern.

Aber, die Sänger. Torsten Kerl ist ein Tannhäuser, wie ihn Bayreuth lange nicht hatte: gut bei Stimme bis zum letzten Ton, sicher, souverän, verständlich – und sauber in der Intonation. Gleiches gilt für Michelle Breedt als Venus und Camilla Nylund als Elisabeth, nicht anders ist es bei Günther Groissböck als Landgraf und Michael Nagy als Wolfram von Eschenbach. Und Katja Stuber holt aus ihrer denkbar kleinen Rolle, dem jungen Hirten, das Maximum heraus. Wenn diese Produktion schon weiterlaufen muss – dann, bitte, mit keinem anderen als diesem wunderbaren Solistenensemble.

Diese Inszenierung hat genau einen richtigen Gedanken: den, dass das Leben ein großer Kreislauf ist und sich die Welt als abgeschlossenes System verstehen lässt. Aus Abfall wird Nahrung und aus Nahrung Abfall, ohne Ende kein Anfang, ohne Tod kein Leben. Und wie seit Aristoteles bekannt ist, führt nicht das Extreme zu Heil und Glückseligkeit, sondern das gesunde Mittelmaß – aus Körperlichkeit und Vergeistigung. Wer das Programmheft aufmerksam liest (und nur der, denn sonst sieht man nichts davon), wird merken, dass Baumgarten – beziehungsweise: sein Dramaturg Carl Hegemann – die beiden Pole als das Dionysische und das Apollinische bezeichnet. Es musste aber nicht erst das Jahr 2012 anbrechen, damit das mal einer sagt – Wagners „Tannhäuser“ besteht ja aus nichts anderem als dem Konflikt von Körper und Geist, Genuss und Entsagung. Es hat nur bisher, mit Verlaub, noch keiner so plump zu sagen versucht wie Baumgarten.

Und weil dieser Kreislauf nun einmal die Grundlage der Welt und des Lebens ist, kann man beinahe alle Opern so inszenieren, man könnte in diesem Bühnenbild auch beinahe jede Oper stattfinden lassen, nur: Solange es irgendeine Alternative gibt, ist es besser, man lässt es sein.

Das Bühnenbild besteht aus Skulpturen von Joep van Lieshout – einem Biogastank und dem berühmt gewordenen Alkoholator, ein gewaltiger Tank zur Gewährleistung des täglichen Promille-Pegels – und einem großen Holzgestell, in dem Heerscharen von Arbeitern vor sich hin vegetieren. Mit dem Unterschied, dass sie – im Vergleich zum Vorjahr – kaum arbeiten.

Andere Ideen haben überlebt, neue sind dazugekommen: Die Liebesgöttin Venus ist schwanger und gebärt am Ende – der Gnade Wunder Heil! – ein Kind, Venus ist zugleich der von Wolfram verehrte Abendstern, der Hirt torkelt betrunken durch alle drei Akte, Elisabeth lässt sich zum Sterben in den Gastank sperren, beim Einzug der Gäste vor dem Sängerkrieg – „Freudig begrüßen wir die edle Halle“ – lässt Baumgarten den Chor das Interieur abküssen, zu Beginn tanzen ein paar mannsgroße Spermien über die Bühne und am Ende allerhand anderes Getier. Man kann das alles machen, ein paar der Ideen sind gangbar und gut, und natürlich ist die Frage berechtigt, was genau in Rom (bei Baumgarten: zwei Frachtcontainer) mit den Pilgern passiert.

Weil Baumgarten aber keine einzige dieser Ideen für verzichtbar hält, verzettelt er sich völlig – und es ist kein anderer Schluss möglich als: Hier ging es dem Regisseur darum, keinen Stein auf dem anderen zu lassen, Zusammenhänge auseinanderzureißen – aber nicht, weil er eine neuere, bessere Idee hat, sondern einfach nur um des Zerschlagens willen.

Die Unterschiede zum vergangenen Jahr sind winzig: Hier ein bisschen Licht, dort ein bisschen weniger Nebel, ein neues Kostüm für den (gleichfalls neuen) Tannhäuser, der jetzt auch nicht mehr einen ganzen Aufzug lang in Unterhosen herumläuft. Aber noch immer ist da nicht die Spur einer guten, eigenen, großen Idee zu sehen, und auch nicht von der Ahnung, wie man mit Akteuren auf der Bühne umzugehen hat – es ist ja schon fast eine Leistung,

Auf einer so überfrachteten Bühne solche Langeweile aufkommen zu lassen, weil die Sänger entweder herumstehen, ziellos durch das Bühnenbild laufen oder mit winzigen Requisiten Dinge anstellen, die auf einer Schauspielbühne funktionieren mögen, die aber im Festspielhaus ab Reihe zehn nicht mehr erkennbar sind.

Und deshalb ist es wieder Christian Thielemann, der den Abend rettet. Thielemann macht deutlich, was er von Baumgartens sogenanntem Regieansatz hält: gar nichts. Er überkompensiert das, was Baumgarten versäumt hat: Musikalisch könnte der „Tannhäuser“ emotionaler, pathetischer nicht sein, Thielemann gelingen große Bögen, jeder Ton ist genau ausgependelt, und wieder, wie beim „Holländer“, sind es vor allem die Holzbläser, die die Musik leuchten lassen. Alles ergibt sich logisch aus dem ersten Ton, hier weiß einer, was er tut. Nur manchmal wird die ohnehin schon wuchtige Musik dann doch ein wenig schwerfällig – vor allem, wenn Thielemann vor dem Schlussakkord einer Phrase bremst und kurz anhält. Zu viel wird es aber nie – ein paar Gefühle hat dieser Abend bitter nötig.

Foto: Enrico Nawrath