1968: Der Bruch mit den Vätern

Von Michael Weiser

Er gilt als einer der Exponenten der 68er-Bewegung und kämpfte später als Historiker gegen die Verleugnung der Nazi-Schuld. In Bayreuth zeichnete er für die Ausstelllung "Verstummte Stimmen" verantwortlich, die seit 2012 am Festspielhaus an die Verfolgung jüdischer Künstler erinnert. Am Donnerstag (12. April) zeichnet er im Iwalewahaus die 68er-Bewegung aus seiner Sicht nach. Wir sprachen mit ihm über das Schweigen der Väter, den Impuls des Vietnamkriegs und den Ungehorsam.

 
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Die Rebellion der 68er wird auch als Aufstand gegen das „Schweigen der Väter“ angesehen. Ihr Vater war in der NSDAP. Wie lief diese familiäre Aufarbeitung bei Ihnen?

Hannes Heer: Ich hab das erst 1967 entdeckt, in einem alten Zeitungsartikel. Da wird er vorgestellt als Parteigenosse Paul Heer. Er wird darin zitiert, wie er sich beim „Führer“ bedankt, dass dieses Deutschland wieder zu Macht und Einfluss und Sicherheit gekommen sei. Ich habe damals schon gewusst, dass ein Onkel erschossen worden war, weil er sich geweigert hat, an die Front zu gehen. Aus Angst, denunziert zu werden, hatte er sich an die nächste Bahnstation begeben. Es gab Bombenalarm, er wollte in den Bunker flüchten, davor aber stand eine Streife, die sichtete seine Papiere, in denen zu lesen war, dass er schon fünf Tage zu spät war. Man hat ihn abgeführt und vor der Stadt erschossen. Es gab in meiner Geschichte beide Seiten, die der Opfer und die des Parteigenossen.

 

Was meinen Sie, warum dauerte es so lange?

Heer: Wir waren mit anderen Dingen beschäftigt. Er war Förster, er war mit seinen Sachen beschäftigt, ich mit meinen. Im übrigen hat er nicht auf meine Fragen geantwortet. Ein Jahr, nachdem ich den Zeitungsartikel gefunden hatte, hat er einen Brief geschrieben. Das war, nachdem die Panzer des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei gerollt waren, um den Prager Frühling niederzuwalzen. Für mich war das das Ende jeder Kooperation mit dem Sozialismus stalinistischer Prägung. Mein Vater aber schrieb, Leute wie Rudi Dutschke, Rainer Langhans und ich hätten auf diesen Panzern gesessen. Ihn und meine Mutter belaste das extrem. Er schrieb, dass er mich enterbt, dass er mir das Betreten des elterlichen Forsthauses untersagt. Der Film, den ich zeigen werde, antwortet auf den Brief meines Vaters, der von einem Darsteller verkörpert wird. Mit dem bin ich am Dialog. Und ihm zeige dem meine ich meine Fotos und damit meine Sicht auf die Dinge. Und so zeige ich was meine Motive waren. Etwa eine Reise nach Auschwitz 1965.

Der Bruch mit den Vätern

Wir hatten keine Konflikte gehabt. Ein CDU-Wähler, das war er, ich wusste, man kann nicht diskutieren. Aber ich bin gern nach Hause gefahren, um mich zu erholen. Was wichtiger ist, dass wir aufgewachsen sind, ohne zu wissen, was vorher gewesen ist. Ohne dass ein Vater ohne eine Mutter erklärt hat, was war. Wir sind aufgewachsen mit Lügen, mit Wispern und Tuscheln. Wenn die Verwandten da waren, wurde getuschelt. Wir wussten nicht, in welcher Welt wir leben. Der erste, der sich in der öffentlichen Diskussion gemeldet hat, war der Soziologe Norbert Elias. Er sprach von einem Epochenbruch, weil das kein normaler Prozess der Ablösung innerhalb der Familie war, sondern der Bruch mit der Generation der Väter. Ein Bruch, der tief in die Psyche gewirkt hat. Man hatte ein Schuldgefühl, ohne etwas gemacht zu haben. Claire Obscure könnte man das nennen. Man ahnt irgendetwas, ahnt, dass da was ist. In dem Moment, als Tausende sich im SDS getroffen haben, merkten wir, dass es allen so geht, das alle ähnliche Erfahrungen durchgemacht haben. Ich glaube, dass das psychopathologische Material die Revolte erklärt. Wir haben uns nicht mit dem Holocaust beschäftigt, nicht mit den Juden. Wir haben uns identifiziert mit den Vätern, im Staat, in den Unis, in den Medien. Und die Antwort darauf war der Ungehorsam, die Antwort war, zu fragen. Der Vietnamkrieg hat eine entscheidende Rolle gespielt, weil da für uns das ablief, was Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gemacht hatte. Da hat uns eine Energie gepackt. „USA, SA, SS“ der Spruch hat's für uns auf den Punkt gebracht. Das war der zweite Punkt. Der Vietnamkrieg in der Gegenwart, darüber in einen Disput zu geraten – das stand im Vordergrund.

 

Und verließ Sie auch nicht mehr.

Heer: Für mein Engagement wurde ich immer wieder bestraft. Ich habe 1968 mein Examen gemacht, durfte dann aber nicht Referendar werden. Ich war dann privat an einer Schule, bis ich 73 Berufsverbot erhielt. Ja, auf diese Weise wurde das auch zu einem Lebensthema.

 

Sie wurden der „Rudi Dutschke von Bonn“ genannt.

Heer: Ja, so lautete die Schlagzeile im Bonner Generalanzeiger. Ich fand die antiautoritäre Bewegung von Dutschke super, weil sie zeigte, wie man in einer Aktion neue Erfahrungen machte, wie bei einem Happening in der Kunst. Das war unsere Politik in Bonn, antiautoritäre Politik, gedacht als demokratische Revolte. Dutschke und andere wollten Revolution, da sind wir nicht mitgegangen. Wir haben aber  zum Sturz zum Sturz von Lübke beigetragen. Wir haben damals den Rektor der Uni mit fünf Leuten besucht, aber weil er nicht anwesend war, durften wir in seinem Amtszimmer warten. Und dann haben wir das Goldene Buch der Uni entdeckt, mit dem Eintrag von Heinrich Lübke. Und wir haben es ergänzt, mit „Profession: KZ-Baumeister“. Wir waren eine antiautoritäre Bewegung in einer Provinzhochschule.

 

"Ich werde mein Thema weiterverfolgen"

 

Es gibt das schöne Wort von der Altersmilde. Verspüren Sie die schon?

Heer: Ich werde mein Thema immer weiter erfolgen. Ich bin nur vorsichtiger geworden insofern, dass ich nicht mehr in jeden Streit einsteige. Aber grundsätzlich werde ich an dem Thema der verleugneten Nazischuld und diesen Wiedergängern dranbleiben. Wenn man im Bundestag die AfD sitzen hat... Wir hatten erlebten den Aufstieg der NPD, dann verschwand sie wieder - jetzt ist der Aufstieg gelungen. Die Geschichte fängt immer wieder neu an. Mann ist im Gebirge, verfolgt einen Bach, er verschwindet im Boden – und dann tritt er an anderer Stelle wieder hervor.

 

Als Historiker könnte man genervt sein. Lernen wollen die Menschen offenbar nicht.

Heer: Man muss bestimmte Geschichten immer wieder erzählen. Das ist keine Sisyphos-Arbeit, das ist die normale Arbeit eines kritischen Menschen, der sieht, dass Irrtümer lange leben. Ich habe meinen Film an der Hamburger Uni gezeigt. Zuvor hatte ich mir gedacht: Wo werden die einsteigen? Springer, Vietnam, Notstandsgesetze, das kennen die alle nicht. Aber dann kam der Punkt, als es gefunkt hat. Als ich gemerkt habe dass die uns ein Stück weit bewundern, dafür, welche Freiheitsräume wir uns erobert haben. Mit diesem Ungehorsam, der nicht kindlicher Art ist, sondern der zum Charaktermerkmal wird. Das haben sie geschnallt. Dass das den Weg öffnet zu einer großen oder weniger großen Freiheit. 

 

Klagen über die Jugend? Kein Anlass!

 

Die heutige Gesellschaft, insbesondere die jungen Leute: Sind die Ihnen rebellisch genug?

Heer: Ich finde immer genug junge Menschen. Wie auch Lehrer von einer Klasse berichten: Es sind fünf sechs, die mitmachen, die Fragen stellen, neugierig sind. Ich finde immer ein Quorum, das mich zufriedenstellt. Die neugierigen Leute gibt es auch in der aktuell jungen Generation. In das allgemeine Klagegeheul kann ich nicht einstimmen.

 

Was bleibt von den 68ern?

Heer: Bestimmte Eigenschaften, die vorgelebt worden, wie in jeder Revolte, die andere Generationen geprägt haben. Das eine ist der Ungehorsam, damit muss man früh anfangen. Pflichtgehorsam, Gewissensgehorsam und was auch immer, dass man das als Fessel anerkennt und sich befreit. Zweitens: Dass man zumindest bei den bedeutend erscheinenden Angelegenheiten eines Lebens nicht einfach alles für wahr hält, sondern fragt, wo ist der Kern? Dinge, die einem bedeutsam sind, muss man hinterfragen. Das Dritte ist, dass man nicht allein agieren kann. Als fünfzehntausend Studenten einander auf einmal duzten, passierte etwas mit uns. Davor hatten wir Anzug und Schlips getragen, wir sprachen einander mit „Sie“ an. Plötzlich war das möglich, weil wir damit anfingen. Das Gefühl der Solidarität, des gemeinsamen Agierens das zeigte uns, dass man alleine nichts kann, man kann nicht zu Erkenntnissen nicht kommen. Die Frauenbewegung hat einiges von uns Männern korrigiert, meinetwegen, indem sie mit nackten Brüsten im Vorlesungssaal auftauchten und uns mit Tomaten bewarfen. Was das Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler veranstaltet hat, wenn die das Autoritätsgefüge an den Schulen in Frage gestellt haben – dann hat sich was gerührt. Diese Erziehungsgeschichten, die Kindergärten, die Friedensbewegung – daran wäre ohne 68 gar nicht zu denken gewesen. Sich nicht zu bewaffnen, Menschen nicht zu verletzen: Da hat uns Martin Luther King noch mehr mitgegeben als Gandhi. Für den Bezirk in dem ich agiert habe, kann ich das jedenfalls unterschreiben. Es gab sogar eigenartige Freundschaften, auch mit Polizisten.

 

Eine Zigarette im Mannschaftswagen

 

Nicht wirklich.

Heer: Es gab einen, der hatte mich bei einer Demo in Schwitzkasten, der sagte irgendwann, Hannes, du kannst aufhören zu brüllen, es hört dich keiner mehr. Danach haben wir uns in der Wanne (Mannschaftswagen der Polizei Anm. der Red.) hingesetzt und haben uns gesagt, jetzt rauchen wir erstmal. Für uns waren das keine „Bullen“.

 

Wie konnte es dann zur RAF kommen?

Heer: Es war diese gewisse Situation in Berlin. Es gab da noch einen amerikanischen Stadtkommandanten, eine Westberliner Polizei, die anders als in Westdeutschland wie eine Miliz aufgestellt hat war und den Kampf gegen eine Invasion von der Ostseite geprobt hat. Und wir wurden als das Bataillon angesehen, das den Auftrag haben sollte, die Ordnung zu unterwandern. Das alles galt nicht generell für die gesamte Republik. Aber in Berlin sollte die Bewegung exemplarisch zerschlagen werden.


INFO: Für die einen sind sie die Heroen ihrer Jugend, die wahren Gründer einer echten demokratischen politischen Kultur in Deutschland. Für die anderen sind sie die „geistigen Mütter und Väter“ von Werteverfall und politischem Terrorismus: die „1968er“. Für das Evangelische Bildungswerk sind sie es allemal wert, als thematischer Schwerpunkt 50 Jahre später im neuen Semesterprogramm kritisch gewürdigt zu werden. Zum Auftakt erwarten Iwalewahaus und Stadtjugendring den Hamburger Historiker Hannes Heer (Jg. 1941), einen profilierten Protagonisten der 68er Bewegung. Er wird im ersten Teil des Abends über die 1968er Bewegung aus seiner Sicht nachzeichnen. Im zweiten Teil des Abends erleben wir die filmische Auseinandersetzung Heers mit seinem verstorbenen Vater. Der Abend mit dem Titel Der Aufstand gegen die „Nazigeneration“. Die Studentenbewegung 1965 bis 1968 beginnt am Donnerstag, 12. April, um 19 Uhr im Iwalewahaus.

 

 

 

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