Das Ende des Bangens, der Anfang des Schreckens Vor 100 Jahren: Wie Bayreuth den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte

Von Michael Weiser

Friede war gestern, ab heute herrscht Krieg: Den 1. August 1914 erlebt Bayreuth als Erlösung von einer geradezu unglaublichen Spannung. Vor hundert Jahren werden die Festspiele abgebrochen, die Söhne der Stadt eilen zu den Waffen. Wir zeigen Ihnen, wie das Bayreuther Tagblatt damals berichtete.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

"Bei schönem Wetter nahmen die Festlichkeiten einen ungestörten Verlauf. Die Huldigung der Jugend vor dem Schlosse bot wieder ein reizendes und herzerfrischendes Bild. Schon der Anmarsch der Kinder, die Mädchen mit den bändergeschmückten Stäben und die Knaben mit weißblauen Fähnchen, war ein hübsches Schauspiel, das durch den strammen militärischen Schritt der Knabenklassen eine besondere Nuance erhielt.“

Aus Bayreuth fahren Tausende Soldaten an die Front

Als die Menschen im „Bayreuther Tagblatt“ am 1. August 1914 diesen Bericht über die Feierlichkeiten zur Einweihung des Wittelsbacher Brunnens lesen, ist die Zeit der unbeschwerten Feiern vorbei. Von nun an werden keine „Knabenklassen“ mehr marschieren, sondern die Truppen des Kaiserreichs. Allein aus der Garnisonsstadt Bayreuth sollten Tausende den Zug in Richtung Osten oder Frankreich besteigen. Friede war gestern, heute ist Krieg: Die Welt ist über Nacht eine andere geworden.

Uns Heutige irritiert dieser abrupte Wechsel. Für die Menschen vor genau hundert Jahren hatte die Juli-Krise womöglich etwas von einem Naturereignis: Wie ein Gewitter, das sich lange aufbaute und sich in Blitz und Donner entladen würde. Vier Wochen lang hat sich das Verhängnis zusammengezogen. Da kommt die schlimme Nachricht vom Krieg wie eine Erlösung.

„Ein Aufatmen geht durch die Reihen, die Spannung ist gelöst. Wohl kam das Schlimmste, was befürchtet worden war, dennoch empfindet man es als Erleichterung nach den Tagen ungewissen Bangens“, erinnert sich der Reserveleutnant Georg Will in seinem „Kriegstagebuch“.

Die Krise hatte wochenlang geschwelt

Wahrscheinlich haben die Menschen erst in den letzten Julitagen gemerkt, wie nahe Deutschland und Österreich vor einem Krieg stehen. Die Krise, die durch die Schüsse von Sarajewo ausgelöst worden ist, hat wochenlang geschwelt.

Doch die Menschen wissen nichts von den Plänen der Politiker und den Verhandlungen der Diplomaten, nichts von der Absicht der Österreicher, mit dem Unruhestifter Serbien ein für allemal aufzuräumen. Können nicht absehen, dass eine Strafaktion auf dem Balkan den Weltbrand entfachen wird. Es wird schon noch mal gut gehen, denken sie.

Der Monarch sagt seinen Besuch in Oberfranken ab

Die Dinge gehen daher ihren Gang. In Bayreuth fiebern die Leute dem Besuch des bayerischen Monarchen entgegen. Ludwig III. in Oberfranken, das ist allemal wichtiger als der Streit zwischen Serbien und Österreich. In Bayreuth werden die Straßen geschmückt, Häuser beflaggt, seit Wochen werden Festabordnungen bestimmt und Reden geschrieben.

Da bricht die Krise erneut in die Betriebsamkeit der kleinen Stadt herein. Wegen der unsicheren politischen Lage sagt Ludwig III. seinen Besuch ab. Stattdessen kommt Prinz Alfons. Es gilt den von Friedrich Lommel gestalteten Wittelsbacher Brunnen gegenüber dem Markgräflichen Opernhaus einzuweihen, ein Symbol der Ergebenheit gegenüber den Wittelsbachern, ein Geschenk einer wohlhabenden Bürgergesellschaft an sich selbst, Höhe- und Endpunkt der Prinzregentenzeit. Woanders heißt diese Zeit Belle Epoque, die schöne Zeit. Sie ist am Morgen danach Geschichte.

Die Nachricht von der Mobilmachung gegen Russland erreicht Bayreuth am frühen Abend des 1. August, vor dem dritten Aufzug des „Parsifal“. Vor Gurnemanz hat also der Kriegsherold seinen große Auftritt. Man habe versucht weiterzumachen, schreibt Siegfried Wagner, „bis wirklich die Kriegserklärung das Ende brachte. Der Abschied von allen Freunden war tiefergreifend“.

Das Festspielorchester war bereits geschrumpft

Die Wirtin des Bayreuther Künstlerlokals „Eule“ notiert, dass Karl Muck das Bühnenweihfestspiel mit schon unvollständigem Orchester zu Ende dirigiert habe. Diplomaten haben nun nicht mehr viel zu melden, die Militärmaschinerie läuft auf vollen Touren. Am nächsten Nachmittag schreitet ein Unteroffizier durch die Straßen Bayreuths, um quasi Vollzug zu melden: Das Deutsche Reich befindet sich bereits im Kriegszustand mit Russland.

Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II. sind verwandt, nennen einander „Nicky“ und Willy“. Doch das spielt nun keine Rolle mehr. Am 3. August erklärt Deutschland auch Frankreich den Krieg, am 4. August folgt die Kriegserklärung Englands. Houston Stewart Chamberlain, der weithin bekannte Publizist und Antisemit, Schwiegersohn Richard Wagners, Brite von Geburt, Deutscher aus Neigung, verspürt in Bayreuth bei dieser Nachricht das Verlangen, sich „wie ein krankes Tier in eine dunkle Ecke zu verkriechen“.

Chamberlain ist nicht der einzige, den die Nachricht vom Krieg betrübt. Die Menschen fühlen sich dem Vaterland nun auf eine neue innigere Weise verbunden, das schon. Und vor allem die Jungen sehen die Chance, es den ergrauten Veteranen des siegreichen Krieges von 1870/71 gleichzutun. Aber Freude? Otto Normalbayreuther sorgt sich um seine Familie, sein Geschäft, seinen Handwerksbetrieb. Und der Landwirt fragt sich, wer die Ernte einbringen soll.

Auf den Straßen wird über die ernste Lage diskutiert

„Völlig verändert hat sich über Nacht das Bild der Straße. Keiner geht mehr am andern ohne Gruß und Rede vorbei. Gleich gesellt sich ein Dritter und Vierter dazu“, heißt es in den Erinnerungen von Georg Will. „Auf dem Marktplatz, bei der Brücke, vor der Alten Post, in der Bahnhofstraße, überall stehen die Menschen in Gruppen beisammen, lesen die Anschläge, besprechen die Lage, erwägen die Aussichten unseres Kampfes. Die Jungen stimmen das Deutschlandlied an, aber die Alten sind ernst und versorgt.“

Als Will fünf Jahre später aus der Gefangenschaft zurückkehrt, sind 17 Millionen Menschen gestorben, das österreich-ungarische und das osmanische Reich ebenso Geschichte wie die Herrschaft des Zaren.

Deutschland liegt am Boden. Auch in Bayreuth sind viele Väter, Söhne Brüder gefallen. Es werden keine Prinzen mehr kommen, um Brunnen einzuweihen. Haus Wahnfried ist pleite. Festspiele wird Siegfried Wagner erst 1924 wieder veranstalten können.

Den Mann, der Deutschland wieder aufrichten soll, einen Gefreiten des Weltkriegs. hat er im Jahr zuvor kennengelernt. „Ein prachtvoller Mensch, die echte deutsche Volksseele“, schwärmt er. „Er muss es fertigbringen.“ Der Mann heißt Adolf Hitler.

Bilder